„The Edukators“ – die Erben der 68er

entstanden im Rahmen einer Bewerbung für eine Jurymitgliedschaft

Jule (Julia Jentsch) ist Anfang zwanzig und hat ihre Träume von einem „wilden und freien Leben“ schon unter einem Berg von Unfallschulden begraben. Ihr Gläubiger Hardenberg (Burghard Klaußner) wohnt in der gleichen Stadt, aber scheinbar in einer anderen Welt. Während Jule ihr Leben danach ausrichtet, ihm das Geld für den beschädigten Mercedes zurückzuzahlen, stehen in seiner Vorstadtvilla noch drei weitere Luxuslimousinen, die er nicht einmal fährt, weil ihm sein Managerposten nicht die Zeit dafür lässt. In Hans Weingartners Film ‚Die fetten Jahre sind vorbei’ kennzeichnen diese beiden Charaktere die Pole eines absurden kapitalistischen Systems, das der Gesellschaft ihr Glück entzieht.
Gegen die ungerechte Verteilung von Besitz und Einfluss begehren Jules Freund Peter (Stipe Erceg) und ihr Mitbewohner Jan (Daniel Brühl) auf, indem sie als selbsternannte „Erziehungsberechtigte“ in die Villen der Superreichen einsteigen und deren bürgerliche Ordnung im wahrsten Sinne des Wortes auf den Kopf stellen. Als sie in das Haus von Jules unbekanntem Peiniger einbrechen und Hardenberg in diesem Moment aus dem Urlaub zurückkommt, werden die drei gegen ihre Absicht zu Geiselnehmern. Aus Berlin fliehen sie auf eine entlegene Berghütte, in der sich die Parteien langsam näher kommen und entdecken, dass sich hinter den Masken von „Kapitalisten“ und „Terroristen“ Menschen mit sehr ähnlichen Idealen verbergen können.
In seinem zweiten Film zeigt der junge Regisseur eine Generation, die er als ehemaliger Hausbesetzer sehr gut kennt: Auf der Suche nach etwas, an das sie glauben kann, muss sie resigniert feststellen, „dass alles schon mal da war“ und dass selbst die Modell-Revolution der 68er längst in der Mitte der kapitalistischen Gesellschaft angekommen ist: „Alles, was früher subversiv war, kannst du heute im Laden kaufen.“ Dass Hans Weingartner seinen Film als Low-Budget-Projekt mit Schulterkameras und ohne künstliche Beleuchtung inszeniert, ist nicht nur als auktoriale Sympathiebekundung für die anti-kapitalistischen Ideen der Protagonisten zu verstehen, sondern vor allem ästhetisch wirksam: Die Kamera von Matthias Schellenberg und Daniela Knapp verlässt nie die Augenhöhe der Protagonisten und den Schauspielern bleibt viel Raum für Improvisation, den sie mit ihrer eigenen Sprache und Stimme füllen. Das schafft einen fast dokumentarischen Stil, der das Generationenportrait noch glaubwürdiger macht.
Der Film lebt von der Konfrontation der Generationen – im direkten Dialog mit Hardenberg wie in den Anspielungen auf die Filmkultur seiner Revoluzzer-Zeit. Wenn Jule im Laufe des Films von Peter zu Jan überwechselt und sie am Ende einsehen: „Wir drei, das ist viel wichtiger als irgendeine Spießermoral!“, so ist damit zu Hardenbergs Überraschung keine ‚Ménage à trois’ gemeint. Weingartners Film erinnert zwar stilistisch an die ‚Nouvelle Vague’, doch Jule steht im krassen Gegensatz zu den Protagonistinnen von Godart oder Truffaut. Sie ist weder die ‚femme fatale’ der 20er, die ihren Jim und ihren Jules abwechselnd um den Finger wickelt, noch die ‚self-made-woman’ der späten 50er, die die Männerwelt raffiniert und emanzipiert ‚Außer Atem’ hinter sich lässt. Und ebenso wenig ist sie die erotische Abenteurerin Isabelle, die im Paris der 68er so mit der sexuellen Revolution beschäftigt ist, dass sie die politische erst bemerkt, als diese buchstäblich „zum Fenster hereinkommt“. Julia Jentsch interpretiert die Jule vielmehr als charmanten Kumpel im Kapuzenpulli, mit dem man Pferde stehlen und Sendemasten lahm legen kann.
Weingartner entwirft im Laufe des Films das Konzept einer gewaltfreien ‚poetischen Revolution’, die sich von den Übervätern und –müttern der Studentenbewegung emanzipiert. Solange die jungen Rebellen noch die offene Konfrontation im Paria-Stil der 68er suchen, scheitern sie an den langen Hebeln von Arbeitgebern, Justiz und Vermietern. Erst als Parvenüs, die die Macht der Medien und der äußeren Erscheinung auszunutzen wissen, können sie dem System zuvorkommen. Dass Weingartner seine Medienkritik ausgerechnet in einen Film verpackt, ist damit kein Widerspruch mehr. Wenn das rebellische Trio am Ende die Fernsehsatelliten in ganz Europa ausschaltet, enden folgerichtig auch die „fetten Jahre“ mit einem Flimmerbildschirm. So durchbricht der Film die Trennung zwischen Leinwand und Kinoraum und fordert die Zuschauer auf, ihren Beobachterposten aufzugeben und zu handeln.
Leider grenzt Weingartners Optimismus bisweilen an Naivität. Einerseits rollt er Hardenbergs Vergangenheit als kritischer Geist der SDS auf, entzieht sich im Umkehrschluss aber der Frage, was aus den Revolutionären von heute einmal wird. Als Jan und Jule mit Sektkelchen in der Hand und in den Bademänteln der Hausherren auf Hardenbergs Terrasse stehen, als sie von so viel Luxus überwältigt einen Moment lang ihren Auftrag vergessen, beschleicht den Zuschauer das Gefühl, dass selbst die beiden der Versuchung erliegen könnten, ihre revolutionären Ideale über Bord zu werfen, wenn sich die Gelegenheit bietet. Da kann es kaum überzeugen, dass Jan diese Möglichkeit mit einem kategorischen „Das glaube ich eben nicht!“ verwirft.