Unterwegs durch Seelenlandschaften

Wenn die Filme der 9. Französischen Filmwoche eines nicht sein wollen, dann dies: französisch. Das Gefühl der Heimatlosigkeit und Entfremdung zieht sich leitmotivisch durch viele der ausgewählten Produktionen, bis hinein in die Komödien.

veröffentlicht in der taz vom 3. Juli 2009 >>

Wenn die Filme der 9. Französischen Filmwoche eines nicht sein wollen, dann dies: französisch. Das Gefühl der Heimatlosigkeit und Entfremdung zieht sich leitmotivisch durch viele der ausgewählten Produktionen, bis hinein in die Komödien. Unter dem Blick der Kamera zerfällt die monumentale Kultur- und Naturlandschaft zur planen und oft grotesken Kulisse, in die sich der Einzelne nicht mehr einfügt. Die Seelenlandschaften der Protagonisten besitzen größere Resonanzräume als jeder Palastsaal und bergen tiefere Abgründe als jede mediterrane Schlucht.

In Pierre Schoellers Debütfilm „Versaille“ – angesiedelt in eienr fiktiv verschobenen Gegenwart – bildet das barocke Prunkschloss des „Sonnenkönigs“ Louis XIV. einen surrealen Kontrast zum armseligen Leben in den umgebenden Wäldern, in die sich das Pariser Prekariat zurückgezogen hat. In der Republik der zwei Millionen Arbeitslosen scheint die Sonne niemals aufzugehen. Fast alle Szenen des Films sind in finstere Nacht getaucht und dabei umso eindringlicher: Wie der fünfjährige Enzo (Max Baissette de Malglaive) zwischen den Autolichtern von Paris mit seiner jungen Mutter (Judith Chemla) ums Überleben kämpft, wie er im Schein des Waldfeuers bei einem mürrischen Aussteiger Unterschlupf findet (Guillaume Depardieu in seiner letzten Rolle), ehe er im Morgengrauen von seiner Mutter verlassen wird.

Schoeller inszeniert die zornige Zerrissenheit des Eremiten zwischen Freiheitsdrang und ungewollten Vaterpflichten ebenso gekonnt wie die Perspektive des schweigsamen Kindes, für das die Odyssee ein trauriges Märchen ist: In einer Sequenz läuft Enzo die schier unendliche Freitreppe Versailles hinauf, um einen Portier in barocker Tracht, den er für den König hält, um Hilfe für seinen kranken Ersatzvater zu bitten. Die Welten verschmelzen – ausnahmsweise – in gleißendem Sonnenlicht.

Heimatlos auf ganz andere Weise ist die Schriftstellerin Célimène in Sophie Fillières Komödie „Un chat un chat“. Wie ihre folienverhangene Wohnung ist auch ihr Leben ein Provisorium, in dem Wunsch und Wirklichkeit immer stärker auseinander driften. Célimène flüchtet sich in die fremde Identität einer fiktiven „Nathalie“ und reduziert sich selbst zu einem Niemand an einem Unort: Sie spricht nicht, schreibt nicht, liest nicht, liebt nicht, wohnt nicht, kultiviert die die Weltflucht. Wenn sie mit Mac und Marlboro vor einer leeren Datei im aseptisch-weißen Schlafzimmer sitzt, zitiert Fillière den Mythos vom Originalgenie, das nur in vollkommener Abgeschiedenheit schreiben kann – nur um ihn gleich zu durchbrechen.

Denn wie in „Versaille“ stellt sich ein jüngeres Alter Ego der Isolation der Protagonistin entgegen: Wie aus dem Nichts taucht die 17-jährige Anaïs (Agathe Bonitzer) im Leben der Autorin auf. Zwischen den Frauen entspinnt sich ein Katz-und-Maus-Spiel, in dem beide die Katze sein wollen: „un chat un chat“. Anaïs, die sich als Figur in Célimènes noch ungeschriebenem Roman aufdrängt, greift bald selbst als Doppelgängerin ins Leben der Älteren ein, „vertritt“ sie auf ihrer Geburtstagsparty, öffnet ihre Liebesbriefe und rezitiert diese auswendig auf offener Straße. Ihre ambivalente Rolle drückt Anaïs selbst mit einem Wortwitz aus, wenn sie zu Célimènes Mutter sagt: “Je suis votre fille.” – “Ich folge ihrer Tochter” oder aber “Ich bin ihre Tochter.”

Anaïs wird Célimènes bessere und schlechtere Hälfte, unverzichtbar und unausstehlich, ähnlich der Besucherin in Simone de Beauvoirs Roman „L’invitée“. Mit fast slapstickhafter mimikry überzeichnet Fillière die Ähnlichkeit zwischen den beiden Protagonistinnen, wenn sie sie in der ersten gemeinsamen Einstellung mit der gleichen katzenhaften Gewandtheit über ein Geländer flanken. Gemeinsam nehmen sie den Lebensraum zwischen Anaïs’ 17 und Célimènes 34 Jahren in Besitz: Célimène entwirft Anaïs’ Geschichte, diese wird sie leben. Anaïs fühlt sich (endlich) existieren durch Celimène, diese fühlt sich (wieder) menschlich durch Anaïs. Wer als Siegerin aus dem Katz-und-Katz-Spiels hervorgeht, bleibt ungewiss: ob Célimène das gelebte Leben der Anaïs ab-schreiben (Vivir para contarla) oder ob sie Anaïs ihr Leben vor-schreiben wird (Contar para vivirla).

Ebenfalls auf der Filmwoche zu sehen ist „Erzähl mir was vom Regen“, der neue Film von „JaBac“, dem Autoren- und Schauspielerpaar Agnès Jaoui und Jean-Pierre Bacri, der am 30. Juli in den deutschen Kinos anläuft. Darin dienen die französischen Meeralpen als Kulisse für die Selbstinszenierung der Politikerin Agathe Villanova (Jaoui), die zum Wahlkampf in ihr Heimatdorf zurückkehrt, das sie nicht einmal zum Tod ihrer Mutter aufgesucht hat. Doch wie in Fillières Film entwickelt die Kulisse ein Eigenleben: Schafe unterbrechen ein Fernsehinterview und wer würde sich besser als Sündenbock für den Sommerregen eignen als die heimgekehrte Politikerin. Die Stärke des Films ist die komödiantischen Kollision seiner Charaktere: Im Nirgendwo der französischen Provinz trifft die Feministin auf ihre überreizte Schwester, deren Kierkegaard zitierenden Ehemann und einen dauerbekifften Regisseur (Bacri), dessen einziger Erfolg ein Dokumentarfilm über die Corrida vor 20 Jahren war – „aus der Perspektive der Bullen“.

Leider opfern JaBac den starken Dialogen die Bilder, die über eine statische Theaterverfilmung nicht hinausgehen und kaum Eigenleben entfalten. Warum Villanova trotz besserer Erkenntnisse in der Politik bleibt, ist ebenso unverständlich wie die Frage, warum ihre Schwester Florence zu ihrem geringschätzigen Ehemann zurückkehrt – die finale Versöhnung entsöhnt den Zuschauer. Dabei waren JaBacs vergangene Drehbücher alles andere als fatalistisch: Mit dem Drehbuch zu Alain Resnais „film multiple“ Smoking/ No Smoking hat Jaoui der freien Entscheidung schon 1993 ein Denkmal gesetzt. In divergierende Erzählstränge veranschaulicht sie darin, wie die alltäglichen Entscheidungen der Protagonisten fundamentale Auswirkungen auf ihr Leben haben: Sylvie Bell ist frei zu reisen, Kinder zu bekommen oder Journalistin zu werden. Noch in Jaouis „Schau mich an“ („Comme une image“) emanzipiert sich die mollige Protagonistin Lolita von ihrem Vater, dem zynischen Erfolgsautor Cassard; in „Lust auf andere“ befreit sich ein Unternehmer von seinem engstirnigen Lebensstil und seiner vereinnahmenden Frau. Auf den konsequenten Aufbruch der Vorgängerfilme folgt im „Regen“ die unreflektierte Stagnation unter der Maske eines Happy Ending.

Headerfoto: Erzähl mir was vom Regen, Jaoui, 2008

(zu meinem Interview mit Agnès Jaoui >>)