»Verloren im Herzen
des großen Babylon
nennen sie mich den »Illegalen«,
weil ich keine Papiere habe;
zum Arbeiten ging ich
in eine Stadt des Nordens,
mein Leben ließ ich zurück
zwischen Ceuta und Gibraltar.
Ich bin ein Strich im Meer,
ein Geist in der Stadt,
mein Leben ist verboten,
sagt die Obrigkeit.«
(Manu Chao: Clandestino.)
Tragische Bootsunglücke und Aufstände in den spanischen Flüchtlingsenklaven Ceuta und Melilla prägen unsere Wahrnehmung der afrikanischen Einwanderung nach Europa. Dabei bleiben der Alltag und das persönliche Schicksal der Flüchtlinge ohne Papiere größtenteils im Dunkeln, zumal diese im Schengenland in die Illegalität gedrängt werden und daher auf ihre Anonymität bedacht sind.
Doch seit einigen Jahren betreten europäische und afrikanische Filmemacher dieses schwer zugängliche Terrain: Die einen beschreiben das Leben und Arbeiten der »Illegalen« in Europa (Deutschland: Sans Papiers von David Rych, 2004, Frankreich: Paroles des Sans Papiers von Patrick Watkins, 2006), die anderen treffen die Flüchtlinge an einem seiner Ursprungs- oder Durchreiseorte in Afrika an, um dort die beschwerliche Reise zu Wasser und zu Land zu dokumentieren.
Gleich zwei Preisträger des internationalen Dokumentarfilmfestival FID Marseille setzen sich mit eben diesem Thema auseinander: In Bab Sebta (Preis der Jury Marseille Espérance) beobachten die portugiesischen Filmemacher Pedro Pinho und Frederico Lobo die Warterituale der Migranten am letzten Punkt ihrer Reise, dem Tor von Gibraltar. Ihre ethnografische Studie portraitiert Ceuta als Ort des Transits, als wirtschaftlichen und kulturellen Knotenpunkt und Symbol für einen Wendepunkt in der Biographie der einzelnen Migranten. In Nordmarokko und Südalgerien haben Charles Heller (Crossroads at the Edge of Worlds, Kreuzung an der Grenze der Welten, 2006) und Idrissou Mora-Kapi (Arlit, la deuxième Paris, Arlit, das zweite Paris, 2005) ähnliche Filmprojekte unternommen.
Ganz anders Mirages (Durch die Wüste, wörtlich: Fata Morgana), der Siegerfilm des Festivals: Darin begleitet Olivier Dury die ersten Tage eines Migrantenkonvois durch die Sahara, vom nigerischen Agadez bis Djanet im Südosten Algeriens. Der Titel kündigt bereits die doppelte Perspektive dieses Films an, der zwar in Afrika spielt, doch von (der Utopie) Europa handelt: Die Beschwernisse der Wüstendurchquerung, die die Migranten geduldig über sich ergehen lassen, spiegeln ihre Verzweiflung wie auch die Hoffnung wider, nördlich des Mittelmeers ein besseres Leben zu finden.
Durys Kamera folgt zwei Geländewagen, völlig überladen mit rund 40 jungen Männern, deren Füße beinahe den Sand berühren. Unter Führung der ortskundigen Tuareg-Nomaden kämpft sich der sagenhafte Tross über bucklige Pisten durch Buschland und Sandstürme voran. Schals und Turbane bieten den Männern kaum Schutz gegen den Sand und die unbarmherzige Trockenheit bei Tag; gegen den Nachtfrost kann auch das Lagerfeuer kaum etwas ausrichten.
Selten tauchen am Straßenrand Lebenszeichen auf, nur um gleich darauf wieder in der Unendlichkeit der Wüste zu verschwinden: Man sieht Kinder, die den einzigen Weißen im Konvoi erblicken, einen Frosch, der um sein Überleben kämpft und einen Geier, der auf die Verlierer dieses Kampfs wartet. In der Wüste bleiben die Männer für sich: Sie bleiben auf Distanz voneinander, kämpfen um den knappen Platz auf der Ladefläche und fixieren das Nichts, eine Mischung aus Müdigkeit und Hoffnung im Blick. Nur die Nacht bringt die einsamen Migranten einander näher, wenn das Lagerfeuer inmitten der unendlichen Wüste einen abgeschlossenen Raum schafft.
Olivier Dury bemüht sich um größtmögliche Objektivität: Er beschränkt sich aufs Beobachten, verzichtet auf einen Off-Kommentar und wählt sich nicht einmal einen Protagonisten aus der Gruppe der Migranten. Warum nehmen diese Männer aus dem Niger, dem Senegal oder Mauretanien einen solchen Leidensweg in Kauf? Ist es der Kampf ums Überleben? Sind es politische Gründe? Und was erwartet sie in Europa? Der Status eines »Illegalen«? Die Ausweisung? Der Film gibt mehr Fragen über die afrikanische Migration nach Europa auf als er beantwortet. Doch diese verrätselte Zurückhaltung ist gerade seine Stärke. Der Horizont vor und hinter der kleinen Karawane schwankt, flimmert und wird unscharf: Ebenso wie die Gründe ihrer Migration der Fantasie des Zuschauers überlassen werden, wissen die Reisenden selbst nicht, welcher Fata Morgana sie entgegensteuern.
In seinem Filmdebüt erfasst Olivier Dury ein komplexes Thema in poetischen Bildern und leisen Tönen. Immer wieder tauscht die Kamera des Franzosen stumme und verstehende Blicke mit den Menschen aus, deren Entwicklung von »Reisenden« zu »Migranten« und »Illegalen« Dury in diesem ungewöhnlichen »Road Movie« darstellt.
Fotos: 1,3,4: Filmstills “Mirages”, Olivier Dury; 2: Filmstills “Bab Sebta”, Pedro Pinho/ Frederico Lobo
Zum Weiterschauen und -lesen
Dokumentarfilme über das Thema der afrikanischen Einwanderung nach Europa
• Dury, Olivier: Mirages (Durch die Wüste). Frankreich, 2007. 46 Min. TV-Erstausstrahlung: ARTE, 6. Juli 2008.
• Pinho, Pedro/ Lobo, Frederico: Bab Sebta. Portugal, 2008. 110 Min.
• Heller, Charles: Crossroads at the Edge of Worlds (Kreuzung an der Grenze der Welten). Schweiz, 2007. 37 Min.
• de No, Juan Luis: La Ciudad de la Espera (Die Stadt der Hoffnung). Spanien, 2006. 60 Min.
• Mora-Kapi, Idrissou: Arlit, la deuxième Paris (Arlit, das zweite Paris). Burkina Faso/ Frankreich, 2005. 78 Min.
• Watkins, Patrick: Paroles des Sans Papiers (Worte der Einwanderer ohne Papiere). Frankreich, 2006. 15 Min.
• Rych, David: Sans Papier – Illegalized People (Einwanderer ohne Papiere – Illegalisierte Menschen). Deutschland, 2004. 14 Min.
• Manu Chao: Clandestino. Virgin Records, 1998.