Flüchtlinge sind Überlebende – warum dieses Fotoprojekt?

“Ich bin in dem Gefühl aufgewachsen, dass Deutschland nach der Shoah ein neues Land geworden ist. Das hat sich mit den Brandanschlägen, AfD und Pegida geändert. Einige EU-Staaten haben mit mehr Geld und Euphorie Grenzzäume gebaut als Menschen zu helfen, die den Schergen entkommen sind. Welche Armutserklärung, wenn wir Menschen so schlecht behandeln, dass sie freiwillig zurückkehren, weil der Krieg in ihrem Heimatland nicht so feindselig ist wie unser Fremdenhass.”

Grußwort zur Fotoausstellung “…und plötzlich diese Stille” >>

Migranten verlassen ihre Heimat, um ihr Leben und das ihrer Familie zu verbessern – Flüchtlinge, um ihr Leben zu retten. Als Mitmenschen sollten wir beide Motive nur zu gut verstehen. Ich finde es absurd, dass wir von Globalisierung reden, Lebensmittel, Waffen und Finanzprodukte um den Globus schicken, aber Menschen in Todesangst davon abhalten wollen ins nächste reiche Land zu kommen.

Einer meiner nettesten Kollegen und begabtesten Autoren war ein Syrer, der schließlich in große Gefahr geraten ist. Ich habe eine Journalistenfreundin im Yemen, die mir hin und wieder Fotos von Bombeneinschlägen in ihrer Stadt schickt, worauf ich mit Links zu Stipendienprogrammen antworte, die ihr ermöglichen würden ihr Land zu verlassen. Auch wenn die EU den Syrienkrieg in den ersten Jahren weitgehend ignoriert hat und den im Yemen heute noch ignoriert: Diese Dinge sind nah und sie betreffen Menschen wie Dich und mich.

Leider betreffen sie 60 Millionen Menschen und es werden in Zukunft noch mehr, weil der Klimawandel viele Landstriche unbewohnbar macht.

Wir in den Ländern, die zurzeit reich und friedlich sind, lassen uns ja auch nicht von Ländergrenzen abhalten. Mein Mann und ich sind zeitweise in Kalifornien, weil die Unis hier besser sind als in Deutschland. Die ganze Erasmus-Generation ist auf den Beinen, weil es in Südeuropa kaum Arbeitsplätze für sie gibt und viele unserer Vorfahren – oder auch wir selbst hier im Raum – mussten aus politischen Gründen fliehen.

Dass wir Flüchtlinge aufnehmen, ist kein Gutmenschentum, sondern eine völkerrechtliche Selbstverständlichkeit – es nicht zu tun wie viele EU-Länder würde die Genfer Konvention verletzen, die wir unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs aus gutem Grund unterschrieben haben. Und es nicht zu tun wäre für viele Flüchlinge ein Todesurteil.

Wenn Länder überlastet sind – und das ist in Deutschland zur Zeit wohl der Fall – verstehe ich es, wenn zeitweise nicht jeder Wirtschaftsmigrant kommen kann. Aber wir dürfen „die guten“ Flüchtlinge nicht dauerhaft gegen „die bösen“ Migranten ausspielen. In Hunger und Armut zu leben ist langfristig auch ein Todesurteil; von der Migration einiger junger Leute profitieren in armen Ländern ganze Dörfer. Die Rücküberweisungen der Migranten – das Geld, das sie von ihrem Lohn sparen und nach Hause schicken – ist in der Summe mehr als die internationale Entwicklungshilfe.

Obwohl ich mich schon lange mit dem Thema beschäftige, war ich im letzten Sommer überrascht: Verblüfft darüber, wie unvorbereitet die EU war – obwohl der syrische Bürgerkrieg ja schon Jahre anhält und klar war, dass Millionen auf der Flucht sind, wenn zunächst auch nur in den Nachbarländern. Begeistert davon, dass Angela Merkel plötzlich so klar politische Weitsicht zeigt und dies mehrere Monate lang gegen alle Widerstände durchzieht. Und entsetzt darüber, wie die meisten anderen EU-Länder reagieren, entsetzt auch über die Ausbreitung einer neuen Rechten wo ich sie nicht vermutet hätte.

Ich bin in dem Gefühl aufgewachsen, dass Deutschland nach der Shoah ein neues Land geworden ist, dass Fremdenfeindlichkeit hier nur noch in sehr kleinen Nischen geschehen kann – und für jede Neonazidemo gleich 100 Mal so viele Gegendemonstranten bereitstehen. Das hat sich mit den Brandanschlägen, AfD und Pegida plötzlich geändert.

Einige Staaten haben mit mehr Geld und Euphorie Grenzzäume gebaut als Menschen zu helfen, die den Schergen in ihrem Land entkommen sind. Welche Armutserklärung, wenn wir die Menschen so schlecht behandeln, dass Iraker freiwillig zurückkehren, weil der Krieg in ihrem Heimatland nicht so feindselig ist wie unser Fremdenhass.

Trotzdem hoffe ich, dass auch die Flüchtlinge sehen, dass ihnen keineswegs nur Ablehnung entgegenschlägt – und ich glaube, das sehen sie in Wadersloh sehr wohl. Ich hoffe, dass sie sehen, dass viele Menschen sich regelmäßig engagieren und kreativ werden, damit sie sich zu Hause fühlen.

Was bei all den Diskussionen um die Flüchtlings-„Fluten“, „Krisen“, „Massen“, „Ströme“ und den logistischen und politischen Umgang damit oft vergessen wurde, ist der einzelne Flüchtling: Suleyman aus Syrien oder Kainat aus Afghanistan, die niemals freiwillig ihr Land und zum Teil ihre Familie verlassen hätten. Wenn die neuen Wadersloher jetzt nicht hier wären, wären sie tot, sie würden zwangsweise an irgendeiner Front für einen Diktator kämpfen, hinter dem sie nicht stehen, wären mit einem Extremisten verheiratet worden oder aus religiösen oder politischen Gründen im Gefängnis.

Wären wir in ihrem Land aufgewachsen, würde es uns jetzt genauso gehen. Wie können wir sie nicht mit offenen Armen empfangen, dazu beglückwünschen, dass sie es geschafft haben, mit dem Schlauchboot über die Ägäis, an den Prügelpolizisten und Grenzzäunen der Balkanroute bis hierhin zu kommen. Sie haben es verdient endlich zu leben, Luft zu holen, Vertrauen zu ihren neuen Nachbarn zu gewinnen und hoffentlich bald ihre Familien aus dem Krieg nachholen.

Wenn wir ihnen zuhören, können wir eine Ahnung davon bekommen, was Flüchtlinge durchmachen. Und obwohl die Geschichten, die wir hören, schon tragisch genug sind, sind es nur Bruchstücke. Zum einen werden sie nicht alles im Detail erzählen. Und zum anderen hören wir nur die Geschichten der relativ Glücklichen, die hier angekommen sind. Die Gefangenen, Getöteten, Ertrunkenen können ihre Geschichte nicht mehr erzählen.

Wir können von ihnen lernen. Mit Aziz kann man über Fußball, Politik und Photoshop fachsimpeln, Fadi kann einem viel über Architektur erzählen und Shoreh über Kalligraphie. Aber abgesehen davon, dass sie wie wir ihre Berufe und Hobbies haben, geht ihre Lebenserfahrung über unsere hinaus.

Vielleicht werden uns diejenigen, die langfristig in Deutschland bleiben, eines Tages daran erinnern, warum wir keinen Krieg wollen – sollten wir das je vergessen. Denn da können wir sicher sein: Sie werden es genauso wenig vergessen wie unsere Eltern und Großeltern.

Diese Ausstellung wurde im Januar 2016 erstmals 100 Flüchtlingshelfern im westfälischen Wadersloh präsentiert >>. Vom 20. April bis 6. Mai 2016 ist sie im Rathaus der Gemeinde öffentlich zu sehen. Artikel in der Lokalpresse >> und >> und >>

Über die Einträge im Gästebuch habe ich mich sehr gefreut – unter anderem von der ehemaligen Bundestagspräsidentin und Familienministerin Rita Süssmuth, die die Ausstellung im Rathaus gesehen hat.

Gästebucheintrag Süssmuth

Die Glocke, 22. April 2016; Lippstadt am Sonntag, 1. Mai 2016:

Ich danke

…den neuen Waderslohern für ihre Offenheit und Gastfreundschaft.
…Robert Voß, Werner Eckey und Margret Massmann von der Flüchtlingshilfe Wadersloh, die mich in Kontakt mit den Paten gebracht haben.
… den Flüchtlingspaten Christine Frankenfeld, Barbara Pauls und Thomas Gebser-Pauls, Corinna Baumhoer, Peter Cordes, Jürgen Klonus sowie Pia und Maria Suermann.
… Manal El-Ali, Fatemeh Khodaverdi, Amir Aghashahi, Yasmin Frayge, Marjeta Hoxhallari, M. aus G.* und Aziz*, die für mich aus dem Arabischen, Persischen, Albanischen, Dari und Farsi gedolmetscht haben.
… Bürgermeister Christian Thegelkamp und Roman Sunder von der Gemeinde Wadersloh, die mir Ausstellungsräume zur Verfügung gestellt und die Druckkosten für die Bilder übernommen haben.
… meiner Familie, die mich in diesen Weihnachtsferien kaum gesehen hat.

* Namen aus Sicherheitsgründen abgekürzt

Wenn Sie

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Alle Fotos und Texte: © Christina Felschen, 2015-2016