Auf dem Berliner Landwehrkanal fließen Ost und West in einem Lichtermeer zusammen: Treptower und Kreuzberger Wohnungen spiegeln sich im Wasser. Nur eine Stelle bleibt stockdunkel: An der Brücke zwischen Lohmühlenstraße und Görlitzer Ufer reißen die klaren Linien der Wohnblöcke ein; 150 Meter lang nichts als Wald, Wiese, Wege – und 20 Bauwagen.
Im Wagendorf „Lohmühle“ wohnen 20 Menschen inmitten und doch fernab der Stadt mit ihren Bauvorschriften und Mieterhöhungen in einer selbstgeschaffenen Oase. Die ersten beiden Bewohner waren Pioniere: Gleich nach der Wende haben sie ihre Bauwagen hier geparkt – auf dem ehemaligen Grenzstreifen, in einer Sandwüste. 20 Jahre später ist das einstige Niemandsland in ein heiß umworbenes Baugebiet gerückt.
Vom Ufer des Kanals steigt Nebel auf; im Gemeinschaftspavillon des Wagendorfs hängt Zigarettenqualm in noch dichteren Schwaden. Sie schimmern bläulich, werden zu Filmmusik dunkel, hell, dunkel. Auf einer Leinwand rettet ein Mann die Welt vor dem Untergang: „Blade Runner“ Harrison Ford rennt durch ein verlassenes Haus und kämpft gegen Roboter.
Neben der Leinwand kämpft ein Mann mit dem Ofen, einem selbstgebauten Monster, das nach Feuerholz giert. Aus einer tiefen Erdhöhle in der Ecke des Pavillons zieht er einzelne Holzscheite hervor: „Uralte Hainbuche, ein Vermögen wert! Ist bei einem Umbau im Regierungsviertel übrig geblieben, aber außer uns wusste niemand etwas damit anzufangen.“ Eric ist ein bisschen älter und viel zierlicher als Harrison Ford, aber seine dunkelbraunen Augen funkeln, wenn er spricht. Er trägt die Haare nicht zurückgegelt wie Ford, sondern rasiert; auf der Schulter steht nicht „Blade Runner“, sondern „Free Tibet“. Dabei war Eric auch mal ein „Blade Runner“ – kein Klingenspringer wie Ford, sondern ein Raser auf Inlineskates, Bundestrainer in dieser Disziplin. Aber das ist lange her.
Drei Handys hatte er damals – und Verantwortung für drei. „Erst hat es noch Spaß gemacht,“ sagt Eric, schiebt noch ein Holzstück nach und schlägt die Ofentür zu. „Dann hat es mich krank gemacht. Damals habe ich begriffen, dass ich so nicht weitermachen kann.“
Bevor er seinen Wagen betritt, zieht Eric die Schuhe aus. Der Raum ist freundlich und warm; auch hier steht ein Holzofen, klein mit blauen Kacheln. Auf zehn Quadratmetern lebt der 48-Jährige wie ein Student im Wohnheim, mit kleinem Handwaschbecken, zwei Herdplatten, winzigem Schreibtisch, einem Laptop. Freiwillig? Natürlich freiwillig! Eric lacht und tippt auf eine Postkarte an der Wand: ‚Ich leide nicht an Realitätsverlust. Ich genieße ihn.’ Durch ein umlaufendes Dachfenster scheinen die Sterne. Auf dem Bett räkelt sich eine schwarze Katze und nimmt eine Sekunde lang die Gestalt der Sphinx an. Peavey sei ihr Name, „wie der Gitarrenverstärker“. Lautlos huscht sie aus dem Wagen, ihr Fell ist dick und hart. „Das kommt davon, dass sie noch bei Minusgraden auf den Wagendächern sitzt.“
Eric hat den Wagen selbst gezimmert, als er vor dreieinhalb Jahren ins Dorf zog. Seine Freundin Babette hatte ihn für drei Monate in ihrem Wagen wohnen lassen, während sie als Clown durch Südamerika tourte. „Nach wenigen Wochen klopften die Bewohner an der Tür und fragten vorsichtig, ob ich mir vorstellen könnte zu bleiben.“ Er konnte.
Der Moment war günstig: Als Jugendlicher hatte Eric beschlossen, alle fünf Jahre etwas Neues zu machen. Fünf Jahre lang war er Bundestrainer für Inlineskaten im Ruhrgebiet, fünf Jahre lang hat er Medienpädagogik und Jura studiert, hat als Videokünstler in Österreich und der Schweiz gearbeitet und zuletzt auf einem Bauernhof bei Freiburg gelebt. – Als die Lohmühle klopfte, war die Zeit zum Aufbruch gekommen.
Ein Glück für die Wagenburg. Jürgen „Zosch“, der im Dorf als „Bürgermeister“ gilt, klettert vorsichtig aus seinem klapprigen Wagen: „So aktiv und so geschickt wie Eric sind die wenigsten,“ sagt er. 70 bis 80 Stunden im Monat arbeitet Eric ehrenamtlich für das Wagendorf: Gestern hat er dem Deutschen Roten Kreuz eine Führung gegeben, heute morgen Obstbäume geschnitten, vorhin die Kinotechnik aufgebaut und hinter dem Tresen bedient, morgen will er die Homepage des Wagendorfs aktualisieren. „Ich mache das aus Spaß,“ sagt Eric. „Natürlich will ich mich nicht immer allein vor den Karren spannen. Aber ich verlange von den anderen nicht, dass sie genauso viel tun. Was wir jetzt nicht schaffen, bleibt halt liegen.“ Manchmal tut es ihm leid um das Windrad, das am Eingang liegt und darauf wartet, einbetoniert und angeschlossen zu werden: „Ich bin es gewöhnt Projekte sehr geradlinig durchzuziehen,“ sagt Eric und dreht sich eine Zigarette. Er wirkt konzentriert, beinahe asketisch. „Aber Freiheit kann genauso wichtig sein wie Erfolg. Hier habe ich gelernt einen Gang zurückzuschalten und Geduld zu haben.“
Seinen Lebensunterhalt verdient Eric als freiberuflicher Videokünstler und Sozialarbeiter. Seine Nachbarn sind Künstler und Innenarchitekten, Sänger und Schauspieler, Schüler und Studenten. Alle Dorfbewohner haben heute eine Arbeit außerhalb der Wagenburg oder bekommen Arbeitslosengeld. „Das hat einen großen Vorteil: Für unsere Existenz sind wir nicht aufeinander angewiesen. Wir sind eine Familie, keine Kollegen.“
Das war nicht immer so: Den Gründungsmitgliedern war es wichtig, sich komplett selbst zu versorgen. „Das ist allerdings immer schwieriger geworden, weil die Bewohner im Laufe der Jahre immer mehr auswärts arbeiten mussten und immer weniger Zeit für Gemeinschaftsaktivitäten hatten.“ Die Gesellschaft hat sich verändert – und mit ihr die Lohmühle: Vor vier Jahren sind die meisten Gründungsmitglieder ausgezogen und haben jüngeren Platz gemacht.
Konflikte gibt es seitdem kaum noch. Meistens geht’s um Kleinigkeiten: Babette kommt spät nach Hause und stört die hoch schwangere Anne im Nachbarwagen. Oder jemand steht plötzlich ohne Rad da, weil es sich der Nachbar genommen hat ohne zu fragen. „Unstimmigkeiten sprechen wir sofort an. Nur wenn gar nichts mehr geht, schalten wir das Plenum ein.“
Auf einem Rundgang zeigt sich schnell, wie unterschiedlich die Bewohner sind: Klapprige Bauwagen stehen neben historischen Zirkuswagen und selbstgezimmerten Fantasieheimen. Hier treffen sesshafte Hobbygärtner auf nimmersatte Globetrotter, Pragmatiker auf Künstler. Die beiden Wagen der „Kunstnomadin“ Kathrin stehen gleich am Eingang als bekämen sie Platzangst im Innern des Dorfes. Ein Hauch des Provisorischen umgibt sie: Auf orangefarbenen Grund hat Kathrin die Namen der Orte geschrieben, an denen sie bereits Quartier bezogen hat: Eingequetscht zwischen Warschau und Lissabon ist Berlin nur eine Stadt von dreißig anderen. Wer würde sich wundern, wenn Kathrin nicht mehr da wäre?
Weiter drinnen ranken sich Kletterpflanzen um Wagen, deren Räder nur noch mit der Mobilität kokettieren. Eine Kräuterspirale ringelt sich am Häckselweg, Pflanzen und Kunstobjekte verwachsen miteinander. In einem Beet begräbt ein Kreuz symbolisch die Mediaspree; in einem anderen verrät ein Schild das Rezept für das botanische Wunder am Todesstreifen: „Liebe.“
Ökologisches Bewusstsein ist der kleinste gemeinsame Nenner der Dorfkommune. Müll wird vermieden und kompostiert, das Spülwasser in einer selbstgebauten Pflanzenkläranlage gereinigt, der Strom mit Sonnenkollektoren produziert. „Aber wir sind keine Dogmatiker,“ sagt Eric schnell. „Wenn jemand krank ist oder ein Fest ansteht und die Sonne nicht scheint, werfen wir den Generator an.“
Dass das Ökodorf keine gemeinsame politische Linie vertritt, bedauert Eric: „Du wirst uns nie als Wagenburg Lohmühle vereint hinter einem Transparent sehen – es sei denn, es geht uns unmittelbar an wie die Mediaspree oder Mieterhöhungen.“ Doch mit anderen europäischen Wagenburgen hält das Dorf engen Kontakt. Als die dänische Freistadt Christiania 2007 von Schließung bedroht war, reisten so viele Lohmühler nach Kopenhagen, dass die Wagenburg fast verlassen zurückblieb.
Die Betroffenheit kam nicht von ungefähr: Der Pachtvertrag des Kultur- und Wohnprojekts Lohmühle läuft Ende nächsten Jahres aus. Ob er verlängert wird, wissen die Dorfbewohner nicht. Sollte er aber, findet Eric: „Dieses Gelände hat jetzt schon kulturgeschichtliche Bedeutung: Schließlich sind wir 20 Künstler aus Ost- und Westdeutschland, Polen, Italien und Australien, die im ehemaligen Todesstreifen zusammenleben und –arbeiten. Wir haben aus der Wüste eine Oase gemacht. Wenn da nicht deutlich wird, was der Mauerfall bedeutet und wie man die Trennung überwinden kann!“ Eric, studierter Medienpädagoge, ist in seinem Element. Er deutet auf bedrohte Pflanzenarten und junge Bäume: „Keine Pflanze hier ist älter als 20 Jahre – genau so alt wie das wiedervereinigte Deutschland.“
Die Ausstellungen und Veranstaltungen der Lohmühle locken jährlich 6000 Besucher an, 1500 kommen alleine zum Sommerfest. Darunter sind viele, die selbst Freiräume suchen und sich durch kommerzielle Kultur nicht angesprochen fühlen. Bands, die sonst vierstellige Gagen verlangen, spielen aus Sympathie für das Projekt umsonst. Und manch einer würde seine Bequemlichkeit gerne gegen das kalte Wasser und die menschliche Wärme der Lohmühle eintauschen: Rund 150 E-Mail-Anfragen aus dem In- und Ausland muss Eric jedes Jahr ablehnen: „Wenn wir mal einen Stellplatz frei haben, nehmen wir nur noch jemanden auf, den wir bereits bei Aktionen kennen gelernt haben.“ Und selbst der muss eine sechsmonatige Probezeit bestehen.
Die Offenheit der Wagenburg hat auch eine Schattenseite: Unzählige Touristen laufen jeden Sommer durch die Vorgärten, sonnen sich auf den Plätzen und suchen – keine bedrohte Pflanzenart, sondern vor allem eine exotische Spezies: die Bewohner selbst. „Einer hat mal durch die Scheibe in meinen Wagen fotografiert,“ erinnert sich Eric erbost. „Das ist wirklich unter der Gürtellinie! Was denken die sich eigentlich?“
Die Exotisierung der Dorfbewohner mache bei privater Neugierde nicht Halt, sagt Eric: „Wir haben schon Anfragen für Soap-Operas, Koch-Duelle und Model-Shootings auf unserem Gelände bekommen.“ Selbst die Bild-Zeitung hat die „Aussteiger“ schon in ihrem Pavillon besucht. Eric hasst den Begriff: „Wir sind keine Aussteiger, sondern Einsteiger. Wir schotten uns nicht ab, sondern schauen hin, packen an.“ Sie haben den Spieß einfach umgedreht, haben ein normales Bodymaß für die Models gefordert und die Reporter mit Fragen gelöchert. Von der Bild-Zeitung haben sie nie wieder etwas gehört.
„Die Bezirksverwaltung hat uns vorgeschlagen, einen Jägerzaun um das Grundstück zu ziehen.“ Eric grinst und kneift die Augen zusammen. Gerade hat er eine Naturhecke gesetzt. „Da scheißen Vögel rein, hinterlassen Pflanzensamen und sie fängt an zu sprießen.“ Fröhlich sein, Gutes tun und die Spatzen pfeifen lassen. Eric hört lieber auf Don Bosco als auf den Bezirk.
Ob er denn niemals erwachsen werde, hat Erics Mutter sich in einem „lieben langen Brief“ gewundert. Sie wohnt seit Jahrzehnten im eigenen Haus; ihr anderer Sohn hat Geld, ein Auto und ein Pferd. Und Eric? Ach Eric… „Ist doch gut, wenn Kinder anders sein wollen als ihre Eltern,“ sagt der. Und meint es auch so: Seine Tochter Tabitha hat er vor kurzem gefragt, was denn wäre, wenn da „so ein ganz toller Typi“ daherkäme und mit ihr in einem Haus mit Swimmingpool wohnen wollte? „Klar doch, sofort“ würde sie das wollen. Eric hat genickt und gelächelt, belustigt, nicht beleidigt: „Umtriebiger als ihre Mutter und ich kann sie ja nicht werden. Mit so was Solidem ist sie jetzt auf eigene Weise revolutionär.“
Nächstes Jahr ist Eric fünf Jahre in der Wagenburg. Zeit für den Aufbruch? „Ich werde 2010 für das Bestehen kämpfen. Wenn ich das schaffe, kann ich beruhigt weiterziehen.“ Dann kommt sein Wagen zum ersten Mal ins Rollen. „Ich würde gerne mal ein Gästehaus leiten. Aber vielleicht bin ich dafür jetzt noch zu jung.“
Im Gemeinschaftspavillon läuft die letzte Szene des Science-Fiction-Streifens „Blade Runner“: Harrison Ford hat die entfesselten Roboter besiegt. Die Kommunarden lassen einen riesigen Teller mit Pizza und Pommes kreisen. Die jüngsten sind Anfang 20 und haben sich chic gemacht für die Nachbarschaft; in einer Kreuzberger Kneipe würde man sie nur an den dicken Wollpullis erkennen. Sie kichern wie auf einem Kindergeburtstag und sprechen wie im Philosophieseminar: „Die Menschen sind nicht besser als die Maschinen, die sie geschaffen haben. – Und vor allem sind sie verantwortlich für das, was sie schaffen.“
Draußen funzelt eine Taschenlampe hinter dem Plexiglas: Jemand bahnt sich seinen Weg zum Dixi-Klo. Auf der Leinwand drinnen verfällt die archaische Klonfabrik hinter Rauchschwaden; durch ihr Jugendstildach leuchten die Werbetafeln eines Raumschiffs, das die Menschen zu den Kolonien ruft. – Und das Wagendorf? Ist es die Erde oder die Kolonie, ein Relikt der Vergangenheit oder gehört ihm die Zukunft? In sechs Wochen kommt das erste Kind in der Lohmühle zur Welt. Ob es hier aufwachsen darf und ob es das will, steht in den Sternen.