Unheimliche Heimat

In seinem Debütroman „Mein Himmel brennt“ erzählt Heinrich van der Haar den Ausbruch eines Bauernjungen aus Enge und Elend der Fünfziger Jahre. Ein Anti-Heimatroman, der mit der Idealisierung des Landlebens bricht. Van der Haar zeigt ein Münsterland, in dem die Härte und Machtstrukturen des Nationalsozialismus weiterleben

veröffentlicht in der Regionalzeitung “Die Glocke” (Feuilleton) am Samstag, den 19. Sept. >>

Wenn eine Sau zu viele Ferkel wirft, verhungern die Schwächsten – das erlebt der Bauernjunge Heini aus eigener Anschauung. Und er begreift: Auch für ihn ist kein Platz in der Welt seines westfälischen Dorfes, zwischen zehn Geschwistern, im Schatten von Adenauer- und Wirtschaftswunderzeit. Die Schweinegeburt ist eine Schlüsselstelle im Debütroman des Berliner Autors Heinrich von der Haar, der am Sonntag in Münster seine Lesereise durch Westfalen beginnt.

„Mein Himmel brennt“ ist ein Heimatroman ohne Heimat: „Im Münsterland plästert’s oder es läuten die Glocken“, schreibt von der Haar, und seine Sprache ist so karg und poetisch wie dieses Land. Er schildert die Nachkriegsjahre aus der hellsichtigen Perspektive eines Kindes: das Elend der Kleinbauern und Großfamilien, die radikale Flurbereinigung, die bigotte Frömmigkeit und das Schweigen zur Nazivergangenheit.
Das Dorf Steinhop ist ein verstörendes Idyll, dessen Geheimnisse im Unterholz liegen, im heiligen Schweigen, in Tabus und Verboten: Synagogenschutt, gefallene Jungfrauen und Unglückliche, die außerhalb der Friedhofsmauern begraben werden. Trotz Fleiß und Hingabe erleidet Heini brutale Züchtigungen; sein Plattdeutsch und seine Hofpflichten machen ihn zu einem schlechten Schüler, der mit seinen glasklaren Gedanken allein bleibt. „Schwiech still!“ ist der Satz, den er am häufigsten zu hören bekommt – ganz gleich, ob er seinen Vater um Geld für die Kirmes bittet oder nach den jüdischen Einwohnern fragt, die früher im Dorf gelebt haben. Heinis naive Fragen entblößen die hilflosen Beziehungen und Rituale der Erwachsenen, gegen die er immer stärker revoltiert.
Heinrich von der Haar, selbst 1948 auf einem Hof im Münsterland geboren, erweckt ein verschwundenes Land zum Leben: Sein Steinhop ist ein sinnlicher Kosmos mit Appelhoekverstecken und Spökenkiekern, in dem Schneeflocken “wie Brausepulver prickeln” und die jähzornige Tante “den Kopf seitlich legt wie eine Drossel, die eine Schnecke am Stein zerschmettert”. Als Heini mit 15 Jahren vom Kirchturm aus erkennt, wie klein der Flecken ist, der ihn so niedergedrückt hat, ist seine Zeit gekommen: Voll zärtlicher Sehnsucht macht er sich auf die Suche nach einer besseren Zukunft, die er irgendwo am Horizont erahnt.
Sieben Jahre lang hat Heinrich von der Haar an seinem 457 Seiten starken Opus Magnum geschrieben, das einen Kölner Romanwettbewerb gewonnen hat und bereits als “Asche meiner Mutter des Münsterlands” gefeiert wird, nach Frank McCourts Irland-Roman. Aus der Distanz – Von der Haar lebt seit vier Jahrzehnten in Berlin – sieht er überwältigend klar. „Den ersten de Dood, den twetten de Noot, den daten dat Brot.“ Sätze wie kalter Regen.
Autobiographische Züge sind nur allzu deutlich: Auch Heinrich von der Haar ging den langen Weg aus einer kleinen Bauernfamilie zur Promotion nach West-Berlin. Doch der Romanheld Heini ist nicht der Autor Heinrich; der Roman ein Zeitzeugnis, keine literarische Abrechnung. „Mein Himmel brennt“ sondiert nicht wie der Haneke-Film „Das Weiße Band“ das abgrundtief Böse in jedem Menschen. Von der Haars Charaktere machen sich das Leben zur Hölle, doch sie sind keine Teufel. Sie sind Getriebene, Verstümmelte, Traumatisierte und kämpfen ums Überleben – sie können nicht aus ihrer Haut, aus ihrem Dorf, aus ihrem Leben. Außer Heini.

Im Fortsetzungsroman „Der Idealist“ (angekündigt für 2011) betritt der erwachsene Heini die West-Berliner Studentenszene und wird dort fassungslos begrüßt: „Und du hast wohl alles verpennt!“ So traumwandlerisch wie Heinrich von der Haar hat sich selten ein Autor durch den Schlaf einer ganzen Generation bewegt.

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Heinrich von der Haar, Mein Himmel brennt – Die Geschichte einer Kindheit im Münstlerland, KaMeRu Verlag, Zürich, 457 S., 26,50 €, ISBN: 978-3-906739-59-5.

Heinrich von der Haar, Foto: Léon W. Schönau