Auf Kanadas endlosen Highways mögen Trucker das Sagen haben, in Vancouver sind es die Radfahrer. Wenn beide Welten doch einmal aufeinandertreffen, wird es interessant: Vor einem Jahr bremste Tyrone Siglos auf seinem Rad Dutzende LKW des so genannten Freedom Convoy in der Innenstadt von Vancouver aus. Mit seinem weißen Gemüsekistenrad fuhr er seelenruhig inmitten der Spur, während hinter ihm die Big Rigs hupten. Passanten zeigten ihm „Thumbs Up“ – die Convoy-Bewegung hatte gerade wochenlang die Hauptstadt Ottawa blockiert und Anwohner drangsaliert, in Vancouver kam sie nicht weit.
Heute ist schwer vorstellbar, dass Vancouver vor der grünen Wende mal eine reine Autostadt war. Das Radwegenetz wurde innerhalb von zehn Jahren verdreifacht. Während sich früher nur Radkuriere in den Großstadtverkehr wagten, sind nun alle zu sehen: weißhaarige E-Bike-Fahrer im Althippieviertel Kitsilano, Mountainbiker auf den steilen Hängen von North Vancouver, wo Freeride erfunden wurde, Touristen mit Leihrädern auf der Sea Wall im Stanley Park und Eltern mit Lastenrädern auf dem Weg zur Preschool. Auf den Bürgersteigen von Vancouver hat unser Sohn schon mit drei Jahren Radfahren gelernt – im Slalom um belustigte Fußgänger herum. In Manhattan, wo wir früher gewohnt haben, wäre das undenkbar gewesen.
Mein Partner steckte einmal im Regen (natürlich im Regen) an einer Kreuzung fest – weil er und ein Fußgänger sich partout gegenseitig die Vorfahrt geben wollten. „Canadian standoff“, rief der andere schließlich. Das Klischee, dass Kanadier äußerst rücksichtsvoll sind, bestätigt sich spätestens auf den Straßen von Vancouver.
Doch lokalpolitisch gibt es in den vergangenen Jahren vor allem Backlash: Eine ehemalige Bürgermeisterkandidatin (Wai Young) warb damit, dass sie im Falle eines Wahlsiegs „die Straßen befreien“ würde – von Radwegen und -fahrern wohlgemerkt. Sie unterlag, doch der aktuelle konservative Bürgermeister Ken Sim schließt ebenfalls Radwege und weigert sich, beim Neubau einer wichtigen Verkehrsachse Radwege zu schaffen.
Laut dem Copenhaganize-Index ist Vancouver (gemeinsam mit Montreal) die fahrradfreundlichste Stadt Nordamerikas – doch das heißt erst mal nicht viel: Die meisten größeren europäischen Städte gelten als sicherer und fahrradfreundlicher als Vancouver. Ebenso wie Bogotá, Tokio und Taipeh. So lange die Lokalpolitik auf die Bremse tritt, wird sich daran auch nichts ändern.