Als Murat Kurnaz vor vier Jahren aus Guantanamo nach Bremen zurückkehrte, öffnete er zuerst den Kühlschrank und sog die vertrauten Gerüche ein. Wenn voraussichtlich Ende September zwei weitere Männer aus dem US-Gefangenenlager nach Hamburg und Rheinland-Pfalz kommen, betreten sie ein fremdes Land: Statt einer Familie warten Behörden, Sozialarbeiter, Psychologen, Ärzte, Deutschlehrer und Fotografen auf die Entlassenen, die offiziell als unschuldig und ungefährlich eingestuft wurden.
Nach langem politischem Gezerre hatte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) am 7. Juli entschieden, einen Syrer und einen Palästinenser aus Guantanamo in Deutschland aufzunehmen. Seither laufen die Telefondrähte heiß zwischen Berlin, Hamburg und Mainz. “Unser Ziel ist eine gute, aber geräuschlose Integration”, sagt Stefan Paris, Sprecher des Bundesinnenministeriums. Der Sprecher der Hamburger Innenbehörde, Frank Reschreiter, fordert einen vorurteilsfreien Umgang mit den ehemaligen Häftlingen: “Sie brauchen psychologische Betreuung, keine Fußfesseln.”
Schlimmer als die Hölle
Laut Berichten von Amnesty International sind viele der 800 Gefangenen, die seit 2002 in Guantanamo festgehalten wurden, gefoltert und misshandelt worden. Demnach lebten sie in winzigen Zellen, waren lauter Musik und grellem Licht, Prügel und Erniedrigungen ausgesetzt. “Selbst der Teufel hätte keinen so schlechten Ort schaffen können”, sagte der 38-jährige Mustapha Ait Idir nach der Rückkehr in seine bosnische Heimat.
Anders als Murat Kurnaz gelten die beiden Häftlinge, die jetzt nach Deutschland kommen, als angeschlagen und psychisch labil. Dass Traumapatienten ganz unterschiedlich mit ihrer Situation fertig werden, hat Psychotherapeutin Elise Bittenbinder im Laufe ihrer Arbeit beim Dachverband der Behandlungszentren für Folteropfer BAFF beobachtet: “Etwa die Hälfte aller Betroffenen schafft es, Überlebensstrategien zu entwickeln und die Erfahrungen zu kompensieren.” Die anderen blieben seelisch gebrochen.
Albtraum hört nach Freilassung nicht auf
Zu ihrer eigenen Sicherheit will de Maizière die Männer von der Öffentlichkeit abschirmen. Dies könnte schwierig werden: Schon wenige Stunden nach Bekanntgabe der Gefangenen-Aufnahme veröffentlichte eine Zeitung Namen und Fotos der beiden Auserwählten. “Der Medien-Hype könnte ein Riesenproblem werden”, befürchtet Bittenbinder. “Wir kennen Fälle, in denen das Misstrauen der Öffentlichkeit und die Belagerung durch Paparazzi eine Therapie völlig zunichte gemacht haben.” Diese “zweite Traumatisierung” bestätigen auch Laurel Fletcher und Eric Stover von der Universität Berkeley in Kalifornien: “Der Albtraum der Häftlinge hört nicht nach ihrer Freilassung auf”, schreiben die Wissenschaftler, die rund 60 entlassene Guantanamo-Insassen untersuchten. Viele litten dauerhaft unter der Stigmatisierung.
Die deutschen Sicherheitsbehörden bereiten derzeit Betreuungskonzepte vor. Außerdem wird geklärt, ob die Familie von einem der Männer nach Deutschland nachziehen darf. Wie alle Asylbewerber werden beide Sozialleistungen und eine befristete Aufenthaltserlaubnis erhalten, die zunächst für drei Jahre gilt. Nach acht Jahren können die Ex-Häftlinge die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen, falls sie bis dahin die Sprache beherrschen und eine Arbeit gefunden haben.
Kunaz reist als ai-Botschafter um die Welt
Der Deutsch-Türke Murat Kurnaz arbeitet inzwischen in einer Bremer Sozialeinrichtung, reist als Botschafter von Amnesty International um die Welt und hat ein Buch veröffentlicht. In bemerkenswerter Weise, so sein Anwalt Bernhard Docke, habe Kurnaz die lange Isolationshaft überstanden. Psychologische Hilfe lehnt der 28-Jährige bis heute ab. Möglicherweise werde Murat Kurnaz den beiden bei der Resozialisierung helfen können, glaubt sein Anwalt: “Nur wer in Guantanamo war, kann sich vorstellen, was die Männer durchgemacht haben.”
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