Das Gestern im Heute

Mit seiner Fotoserie “Mémoire” erinnert der Fotograf Sammy Baloji an den Kolonialismus. In den Ruinen der Minenstadt Lubumbashi ergründet er die Identität des heutigen Kongo. Dabei werden die Zeitebenen durchlässig, der Minenarbeiter schaut uns direkt an.

Rezension zur Fotoserie “Mémoire” des kongolesischen Künstlers, veröffentlicht im SÜDLINK, dem Nord-Süd-Magazin von Inkota, 12/2013, S.12-13 >>

Wir sprechen einen Namen aus und treten, da die Wände durchlässig sind, in ihre Zeit ein, […] ohne zu zögern erwidert sie aus der Zeittiefe heraus unseren Blick“, schrieb Christa Wolf in ihrer Neuinterpretation der Medea. Und: „Die Jahrtausende schmelzen unter starkem Druck. Soll also der Druck bleiben.“ So ist es auch bei den Panoramen des kongolesischen Künstlers Sammy Baloji: Ruinen der Gegenwart, Zeugen der Vergangenheit – die Zeitebenen sind durchlässig, der Minenarbeiter schaut uns direkt an. Was sind schon hundert Jahre.

Mémoire“, Erinnerung, heißt Balojis großformatige Serie, die auf Initiative von AfricAvenir kürzlich auch in Berlin zu sehen war. Darin stellt er ethnographische Portraits von Minenarbeitern aus dem frühen 20. Jahrhundert in zeitgenössische Panoramafotos seiner Heimatstadt Lubumbashi – oder in das, was davon noch übrig ist. „Ich lese in der Vergangenheit des Kongo, um die afrikanische Identität von heute zu ergründen“, schreibt Baloji über seine Arbeit.
Der 34-Jährige erinnert an eine Zeit, als sein Land und seine Vorfahren auf der Berliner Kongokonferenz in den Privatbesitz des Königs Leopold II. von Belgien übergingen. Die königliche Verwaltung nahm die Frauen in Geiselhaft, versklavte die Männer und ließ willkürlich Hände abhacken; 23 Jahre lang währten die sogenannten Kongogräuel, 15 Millionen Menschen verloren ihr Leben. Noch 1941, als der Kongo schon eine „normale“ belgische Kolonie war, schoss die Polizei eine Demonstration gegen Zwangsarbeit in den Kupferminen von Lubumbashi zusammen. Als sich Belgien auf internationalem Druck 1959 aus dem Kongo zurückzog, hinterließ es ein Chaos, das bis heute anhält.
Mit dem Kunstgriff der achronischen Montage zeigt Baloji die Hinterlassenschaften des kolonialen Beutezugs in ihrer vollen zeitlich-räumlichen Dimension. Die Kolonialverwaltung nahm der Erde ihre Metalle und den Menschen ihre Würde: Ausgestellte Körper, Instrumente im Dienste der Produktion, reglos der Mann, mit Nummern versehen die Frauen und Kinder – wie Geister stehen sie in der zerstörten Landschaft.
Baloji zitiert hier eine Bildsprache, die heute so befremdlich wirkt wie Joseph Conrads Kongoerzählung „Herz der Finsternis“ (1899): „Ein leises Klirren hinter mir ließ mich den Kopf wenden. Sechs Schwarze kamen hintereinander daher und keuchten den Pfad herauf. […] Ich konnte jede Rippe sehen, ihre Gelenke waren wie Knoten in einem Tau; jeder trug ein eisernes Halsband, und sie alle waren untereinander mit einer Kette verbunden, deren Glieder gleichmäßig klirrend zwischen ihnen niederhingen.“ Doch wo Joseph Conrad für Distanzierung sorgt, reißt Baloji die Wände der Zeiten ein. Seine Montagen weisen in die Gegenwart, in der die Ausbeutung – wenngleich subtiler – fortbesteht: in den Textilfabriken von Bangladesch, den Minen des Ostkongo oder den Plantagen Brasiliens.
Bild oben: Sammy Baloji.