„Unser Staat spricht eine Fremdsprache“

Als 2010 viele afrikanische Staaten ein halbes Jahrhundert der Unabhängigkeit vom Kolonialismus feierten, stimmten die AutorInnen dieses Sammelbands nicht in den allgemeinen Jubel ein. In Fachartikeln, Reden und Liedtexten bilanzieren sie 50 Jahre neuer Abhängigkeiten

veröffentlicht im SÜDLINK, dem Nord-Süd-Magazin von Inkota, 09/2011 >>

Stell Dir vor, ein Staat feiert Unabhängigkeit und keiner geht hin. Die 30 AutorInnen dieses Sammelbands stimmten nicht in den allgemeinen Jubel ein, als letztes Jahr 17 afrikanische Staaten ein halbes Jahrhundert der Unabhängigkeit vom Kolonialismus feierten. Denn von Unabhängigkeit, darin sind sie sich einig, könne keine Rede sein. Die ehemaligen Kolonial- und heutigen Globalisierungsmächte haben nicht nur viele der Feiern gesponsert, sondern mischen bis heute in Wirtschaft und Militär kräftig mit. Der malische Aktivist Tiécoura Traoré bringt die Entfremdung und das Misstrauen vieler AfrikanerInnen auf den Punkt: „Unser Staat spricht eine Fremdsprache.“
Der kleine, feine Verein AfricAvenir e.V., ansässig in Douala und Berlin, hat namhafte Intellektuelle und DichterInnen, AutorInnen und Performer aus 13 afrikanischen Ländern eingeladen, ihre Sicht auf die (Un-)Abhängigkeit zu formulieren. Entstanden ist ein wertvoller Sammelband, der Fachartikel wie historische Reden, Gedichte und Liedtexte wie Fotos umfasst – ein rhetorisches Gegengewicht zu den Jubelreden, aber auch zur medialen Vereinheitlichung und Vereinnahmung dieses so vielschichtigen Kontinents.
Auszüge aus den hoffnungsfrohen Reden der Freiheitskämpfer lassen den heutigen Status Quo noch bedrückender erscheinen: „Wir werden der Welt zeigen, was der Schwarze Mensch vermag, wenn er in Freiheit arbeitet“, schreibt Patrice Lumumba in seiner Antrittsrede als erster kongoischer Ministerpräsident 1960 – kurz darauf wird er unter Mitwirkung der USA und Belgiens brutal ermordet. Ein Wind des Wandels fegt über Afrika“, heißt es in einem Text des simbabwischen Liedermachers Chirikure Chirikure. Doch aus dem Augen und Herzen öffnenden Wind wird ein monströser Staubsturm, der Menschen die Sicht nimmt, sie zu Teufeln macht und den Gebetsbaum der Ahnen ausreißt.
Wann kippte die große Idee eines unabhängigen Afrika? Traoré weist darauf hin, dass die jungen Staaten nach der Ermordung vieler Widerstandskämpfer weitgehend willen- und führungslos ihrem Schicksal überlassen waren. Panafrikanische Zusammenschlüsse blieben wirkungslos; vor dem Gründungstreffen der Vereinigten Staaten von Afrika 1963 in Addis Abeba nahmen die Staatschefs noch Weisungen aus Paris entgegen. „Spätestens da begriff ich, dass Afrika die Schlacht um die Unabhängigkeit verloren hatte“, schreibt Prinz Kum’a Ndumbe III., kamerunischer Germanist, Begründer und Leiter von AfricAvenir.
Wo sind die Visionen der frühen Sechziger geblieben? Für den jungen Theatermacher Papy Maurice Mbwiti sind nur Entfremdung und Desillusionierung übrig geblieben: „Angenommen, jemand sagt das Wort ‘unabhängig’ zu dir…? Dann antworte ich: US-amerikanisches Koltan, chinesisches Zinkoxyd, französisches Gold, […] kongolesische Armut.“ Das allgegenwärtige Streben nach Freiheit werde heute nur selten in Institutionen kanalisiert, kritisiert Traoré. Mangels einer politischen Kultur und eines demokratischen Denkens entstehe ein halbes Jahr nach der Unabhängigkeit vielerorts ein „Lumpenradikalismus“, der zu soziale Revolten ohne politische Perspektive führe. Ohne Perspektive? Das Jahr 2011 eignet sich nicht für Bestandsaufnahmen; Monate nach Erscheinen des Bands ist der Lumpenradikalismus nach London gewandert und die nordafrikanische Welt feiert ihre Revolutionen.
Die kenianische Literaturwissenschaftlerin Micere Mugo würdigt die afrikanischen „Matrioten“, jene Frauen, die einen doppelten kolonialen Kampf austrugen, gegen die Europäer und gegen die Männer: von der US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks bis zur letzten Befehlshaberin der Mau Mau-Armee, Muthoni wa Kirima. Ärgerlicherweise setzt das Buch ihr feministisches Bewusstsein nicht in die Tat um: Mugo ist eine von nur zwei Frauen, die zu Wort kommen.
Die Vielfalt des Sammelbands fordert den Leser und überfordert den Eiligen. Für die schnelle Lektüre ist er so ungeeignet wie eine Safari zum Kennenlernen „Afrikas“. Vielmehr lädt schon die liebevolle Gestaltung zum jahrelangen Stöbern und Entdecken ein: Utopische Gegenentwürfe in der Kunst – vom afrikanischen Design über die Filmindustrie bis zur Afro-Währung – sind nicht nur ein Thema, sondern auch das Gestaltungsprinzip: Der simbabwischer Grafikdesigner Saki Mafundikwa verwirklicht im Layout seine afrikanische Farbenlehre; ganzseitige Schnappschüsse afrikanischer Straßenszenen vermitteln ein Gefühl für den beständigen Wandel des Kontinents. Keine Frage: AfricAvenir hat mit diesem einzigartigen Band einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der afrikanischen Erfahrung im globalen Norden geleistet, ganz im Sinne der Widmung: „Auf dass wir alle – AfrikanerInnen und EuropäerInnen – eines Tages wieder aufrechten Hauptes gehen, uns wieder in die Augen sehen können und endlich unsere eine gemeinsame Zukunft gestalten.“

Headerbild: rosalux.de

AfricAvenir: 50 Jahre afrikanische (Un-)Abhängigkeiten. Berlin, 2011. Printauflage vergriffen, E-Book auf CD zu bestellen unter info@africavenir.org (14€). Leseprobe >>