Heim in die Fremde

Etwa 10.000 Menschen verschwinden jedes Jahr ganz plötzlich aus Deutschland, weil sie abgeschoben werden. Ein Kunstprojekt will die Erinnerung an diese “Verschwundenen” zurückholen: Mit einer Einwegkamera haben Kinder ihre Abschiebung in ein ihnen fremdes Land dokumentiert. “Kosovo? Welcher Kosovo?”

veröffentlicht im Nord-Süd-Magazin INKOTA-Brief, 06/2011 >>

„Wir können doch nicht die ganze Welt aufnehmen.“ Der graue Herr trat an die „Blackbox Abschiebung“ im Berliner Haus der Kulturen der Welt heran, das Kinn vorgereckt, die Arme verschränkt. Er hatte noch nichts gesehen von der Ausstellung, nur ein paar Fotos dunkelhäutiger Deutscher an der Fassade – seine Meinung stand fest: „…Schmarotzer …unsere Arbeitsplätze …Chaos!“
10.000 Menschen werden jährlich aus Deutschland abgeschoben; die Öffentlichkeit erfährt fast nichts von ihnen. Die Schulfreundin, die Nachbarin, der Teamkollege – plötzlich sind sie einfach verschwunden. Autor Mark Terkessidis und Filmemacher Ralf Jesse haben die Geschichten von neun Abgeschobenen in Videos und Fotos dokumentiert und sie so zurückgeholt, nicht nach Deutschland, aber in unser Bewusstsein.
Es sind Geschichten von Menschen, die den latenten Rassismus und die Überwachung durch die Asylbehörden über die Jahre verinnerlicht haben. Wie die neunjährige Nadire, die die Schuld für die Ausweisung verschämt auf sich nimmt: „Ich verstehe die Behörden irgendwie: Ich hab mir den Fuß verstaucht und war eine ganze Woche nicht in der Schule.“ Sichtbar wird ein kafkaeskes Asylsystem, das schon den Antragsteller wie einen Verbrecher behandelt; von der rigiden Verbotsstruktur – keine Arbeit annehmen! den Landkreis nicht verlassen! – bis zur Abschiebehaft ist es nicht weit.
Drei Teenager berichten, wie ihnen eine halbe Stunde bleibt, um 15 Jahre Leben zu verstauen, wie Polizisten sie unter Spott und Gelächter zum Flughafen bringen, in Handschellen und Schlafanzügen. „Ist das jetzt ‘Versteckte Kamera’?“ – „Nein, Ihr geht jetzt nach Hause…“ – „Wir sind doch zu Hause.“ – „…in den Kosovo.“ – „Welcher Kosovo?“ Mit Einwegkameras nehmen die Protagonisten uns mit in ein Land, das ihnen genauso fremd ist wie uns: Die Fotos von Enis Miftari fangen die misstrauischen und herausfordernden Blicke der Kinder im Kosovo ein. Du gehörst nicht zu uns, scheinen sie zu sagen, mit dieser fremden Sprache und diesem Benehmen. Die Einheimischen tragen Schaufel, Tüten, Bälle, Hunde – Miftari eine Kamera, wie ein Tourist.
„Wir können nicht die ganze Welt…“, brummte draußen der Graue. Keine Sorge, wollte man ihm zurufen. Es werden immer weniger kommen – Deutschland macht sich unbeliebt genug. Taofik, der in Nigeria als Logistikmanager arbeitete und im Land seiner Jugendträume als illegaler Putzmann, wahrt im Video nur mühsam die Fassung: „Das war die reine Zeitverschwendung. Sechs Jahre lang war ich so allein wie einer, der im Grab liegt. Ich kann niemandem raten herzukommen. In Nigeria gibt es mehr Freiheit.“

Headerfoto: Enis Miftari