Weiberwirtschaft – wie zwei Frauen die Südtiroler Bergrettung auf den Kopf stellen

Frauen haben bei der Bergrettung nichts verloren – das war Jahrzehnte lang ungeschriebenes Gesetz. Ausgerechnet ein abgelegenes Almdorf befreit sich als erstes von Tabus und Traditionen. Von einer, die die Schwelle überschritt und einer, an der kein Mann mehr vorbeikommt

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Als am 12. Juni 2004 um 22:23 Uhr das Funkgerät piept, sitzt Kathrin Obkircher mit Freunden in der Kneipe. Ein Kletterer hat sich verletzt. Er und sein Seilpartner schaffen den Rückweg nicht alleine. Zwei Minuten später schließt sie die Rettungsstelle auf. Hier liegen sie nebeneinander, rot die Vakuummatratzen für Verletzte, blau die Leichensäcke. Sie nimmt beide mit.

Mit einem Helikopter wäre der Einsatz in einer Stunde erledigt, doch es ist stockfinster. Kathrin Obkircher und ihre Mannschaft machen sich erst im Jeep und schließlich zu Fuß auf den Weg. Vorbei an Almhöfen, die sich unter eine mächtige Felswand ducken – den Rosengarten. Es stürmt und regnet, als Obkircher und sieben Männer die Wand hochklettern. Die Zacken der Bergkette ragen über ihnen in den Nachthimmel und kommen langsam näher. Endlich taucht der Verwundete im Schein ihrer Stirnlampen auf. Doch für eine Rettung zu Fuß, mit der Trage am steilen Fels, ist es zu gefährlich. Der Rosengarten ist nicht so lieblich wie sein Name suggeriert.

So harren die acht bis zum Morgen bei den Kletterern aus, unter sich Hunderte Meter Luft. „Erst als die Sonne aufging, sahen wir, dass wir unseren Stand auf einem eingekeilten Block gebaut hatten. Als der Helikopter kam und mit uns am Seil anflog, gab es einen furchtbaren Knall.“ Kathrin Obkircher sah noch, wie der Block, auf dem sie bis gerade gestanden hatte, in die Tiefe stürzte. Da war sie 19 Jahre alt.

Schrecksekunden wie sie fast jeder Bergretter kennt. 2012 verunglückten Obkirchers italienische Kollegen bei einer Übung in den Dolomiten. Im Trentino, just hinterm Rosengarten, begrub eine Lawine Ende 2009 drei Bergretter und einen Bergführer. Obkircher und ihre Kollegen vom Alpenverein Südtirol setzen ehrenamtlich ihre Freizeit, ihren Schlaf und sogar ihr Leben aufs Spiel, um verirrten, verletzten oder verunglückten Urlaubern zu helfen. Und kommen doch manchmal zu spät. Für Frauen sei das nichts, behaupten Bergretter damals wie heute. Offiziell sind Bergretterinnen bereits seit vier Jahrzehnten geduldet, doch in der norditalienischen Provinz kommen auf Hunderte aktiver Männer nur eine Handvoll Frauen. Kathrin Obkircher ist eine Ausnahme. Doch sie möchte es nicht bleiben.

Ob Mann, ob Frau, warum tun sie sich das alles überhaupt an – das Funkgerät am Bett, die Nacht- und Nebelaktionen, die psychische Belastung? „Tradition“ antworten einige, „Hilfsbereitschaft“ andere, wieder andere zucken mit den Achseln. „Des isch dr Tiroler Gedonkn“, sagt Markus Hölzl, im Landesverband für Technik und Ausbildung zuständig. „Der Tiroler ist per se hilfsbereit und hält nicht gleich die Hand auf – das war immer so und bleibt auch so. Amerikanische Verhältnisse haben wir zum Glück noch nicht.“

Kathrin Obkircher ist eine der wenigen, die auf die persönliche Frage eine persönliche Antwort gibt: „Wegen der Bettdecke…“ Sie steht im Nieselregen vor der Rettungsstelle Seis am Schlern, wo sie zu einem Treffen mit Kollegen verabredet ist. Ihr Heimatdorf Tiers liegt nur sieben Kilometer Luftlinie entfernt auf der anderen Seite des Naturparks Schlern, doch auf den Serpentinenstraßen braucht sie locker 25 Kilometer. Ein junger Mann läuft ihr entgegen, rotwangig und in einem viel zu dünnen T-Shirt. Zu frieren scheint er nicht. Der Stolz über einen gerade beendeten Einsatz steht ihm auf die Stirn geschrieben. Er deutet auf die Santnerspitze, über die sich soeben die Nacht senkt. Kathrin Obkircher fragt, lobt, fiebert mit – und macht keinen Hehl daraus, wie gerne sie dabei gewesen wäre. Selbst in der Dämmerung, ungeschminkt und mit Outdoorjacke, ist sie nicht zu übersehen. Ihre Haare leuchten kupferrot und sie lacht gefühlte fünf Mal pro Minute. „I bin va kluan au mit Buabm banondr gwesn – und viel sein drnoch a zer Bergrettung gongn“, sagt sie in jenem Südtiroler Singsang, den Leute vom platten Land nur schwer verstehen. Ihr Onkel leitet die Rettungsstelle im Dorf, ihr Patenonkel war jahrelang technischer Leiter, nun hat ihr Bruder ihn abgelöst. Als Fünfjährige ist sie ihren ersten Klettersteig gegangen, mit neun die erste Kletterroute, bei Rettungsübungen hat sie das verletzte Kind gespielt. „Als Teenager bin ich auf Partys extra nüchtern geblieben. Ich wusste ja: Am nächsten Morgen um sieben schmeißt mich mein Patenonkel aus den Federn, damit ich zum Klettern mitkomme. Er stiefelte einfach in mein Kinderzimmer und wenn ich mich noch mal umgedreht habe, hat er mir die Bettdecke weggezogen.“

Beim frühen Aufstehen ist es geblieben. Auch jetzt hat Obkircher eine lange Woche hinter sich: Montags trainiert sie Mädchen und Jungen in der Klettergruppe „AVS Äktschn“, um dann gleich zur Ausschusssitzung der Bergrettung zu fahren. So geht es weiter: Mittwoch Alpenvereinssitzung, Donnerstag Bergrettungsübung, Freitag Fortbildung des Sozialdienstes PEER, Samstag Winterrettungslehrgang. Alles ehrenamtlich. Kaum ein Mann engagiert sich so sehr. Ihre Akzeptanz hat sie sich hart erarbeitet. Was sie verschweigt, was erst Markus Hölzl später erzählt: Als Leiterin des örtlichen Elektrizitätswerk hat sie die gesamte technische Abteilung der Gemeinde Tiers unter sich – auch zwei ihrer Onkel und ihren Bruder. Wenn die drei sich für einen Einsatz beurlauben lassen wollen, müssen sie die 28-Jährige um Erlaubnis bitten. Obkircher ist die Chefin. Sie hat sich unverzichtbar gemacht in Tiers und in den Bergen.

Vor vier Jahrzehnten wäre das noch undenkbar gewesen. Diesseits und jenseits der Alpen waren Frauen in der Bergrettung ein Tabuthema – an höhere Positionen war erst recht nicht zu denken. Bis eben hier, unweit von Obkirchers Elternhaus, eine stille Revolution stattfand: 1972 betrat eine Frau eine Rettungsstelle und kam mit Anmeldepapieren wieder heraus. Und das nicht etwa in der „Großstadt“ Bozen oder in Meran – nein, die Männerdomäne kippte im 900-Seelen-Dorf Tiers.

Wer sich dem Dorf auf Serpentinenstraßen nähert, hört die Alpenhörner an diesem Sonntag schon von weitem. Ganz Tiers feiert Almabtrieb. Das heißt, die Menschen feiern. Die Kühe wehren sich aus voller Kraft, sie zerren an den Zügeln bis ihre Nüstern bluten und schnauben verächtlich, als sie den Verladewagen sehen. Wilde Kerle mit verschwitzten Gesichtern bugsieren sie in den LKW. Einer dieser alpinen Toreros hält noch seine Bierflasche in der Hand und eine Zigarette im Mund. Ein kleiner Junge quiekt und klatscht. Er hängt in Lederhose über dem Zaun, fürsorglich bewacht von zwei größeren Mädchen in Dirndln.

Schürzen, Lederkracher, Alpenhörner – für wen wird hier eigentlich gespielt? Auf den ersten Blick ist kein Tourist zu sehen. Tiers genügt sich selbst, es ist eines der wenigen Dörfer weit und breit, das nicht mit Skiliften und Seilbahnen für den Massentourismus erschlossen ist. Der älteste Naturpark Südtirols und die größte Hochalm Europas liegen gleich um die Ecke – Tiers braucht die Touristen nicht ködern. Sie kommen auch so.

„I grüß di – a, grüß Gott – hoi!“ Margarethe Ploner schlängelt sich durch das Volksfestgetümmel, aber sie kommt immer nur ein paar Schritte weit, bis sie wieder auf einen Bekannten trifft. „Gretl, unsere Nummer eins“, ruft ein Mann in jägergrüner Filzweste. Es sieht aus, als wolle er ihr auf die Schulter klopfen und als wolle sie sich am liebsten wegducken. Ploner, die Vorzeigefrau, will sich nicht vorzeigen lassen, will nicht jedermanns „Gretl“ sein. „Hoffentlich enttäusche ich Sie nicht“, sagt sie schon zur Begrüßung. „Ich habe ja nichts Besonderes geleistet.“

Die meisten Männer rutschen durch sanften Gruppenzwang in die Sache mit der Bergrettung hinein – eine stillschweigende Norm wie die, mit der Frauen ausgeschlossen werden. Doch Ploners Freunde hatten das Tabu nicht verinnerlicht oder wollten es gar nicht verinnerlichen. „Als die Jungs der Bergrettung beitraten, sagten sie zu mir: ‘Hoi, wos tuaschn alluan drhuam, geasch net mit?’“ Ploner hat ein Vereinsjahrbuch mitgebracht, in dem sie als junge Frau zu sehen ist. Klein und zäh, mit kurzen dunklen Locken und Sommersprossen im gebräunten Gesicht. Schon damals schaut sie skeptisch in die Kamera.

Es gab kein Gesetz, dass Frauen den Zutritt zur Bergrettung verboten hätte. Und doch hatte es vor Margarethe Ploner keine versucht. Dabei war es formal so einfach: „Ich bin bloß mit meinem Tourenbericht in die Rettungsstelle gegangen und habe dem Karl gesagt: ‘Ich will bei euch mitmachen.’“ Sie winkt einen rüstigen Herrn herbei, der gerade vorbeikommt. Karl Ladstätter war damals Rettungsstellenleiter in Tiers, er erinnert sich gut an den Tag, an dem die gerade 18-Jährige vor ihm stand. „Du hast mich mit dem Antrag ganz schön überrumpelt“, gibt er zu und grinst. „Du weißt ja, wir wollten dich gerne aufnehmen. Aber in der Landesstelle war das ein heißes Eisen. ‘Weiberwirtschaft!’, hieß es da. ‘Wer weiß, wie das endet!’ Die sahen die Gefahr, dass eine Frau in der Gruppe verheirateten Männern den Kopf verdreht.“

Ploner betrachtet ihre Hände, peinlich berührt. „Wenn ich von den Diskussionen gewusst hätte, wäre ich die Erste gewesen, die einen Rückzieher macht“, sagt sie und streicht ihre Hose glatt. „Ich wollte nie in eine Männerdomäne eindringen.“ Wollte sie nie Vorbild sein, etwas verändern? „Ich halte nichts von emanzipierten Frauen.“ Nein? – Sie schlägt die Hände über den Kopf. „Na, überhaupt nicht! Schlimm find ich so was!“

Ploner schuf einen Präzedenzfall – lange bevor sich Frauen 1994 den Zugang zur Bergwacht Bayern mit rechtlichen Mitteln erkämpften, gegen ein Veto des Landesausschusses. Doch gezielte Frauenförderung war ihr suspekt. Kathrin ist für sie „ganz a wertvoller Kerl“, in einer Männerwelt dazuzugehören das Höchste der Gefühle. Die große Wende kommt erst später – mit Kathrin Obkircher.

In der Rettungsstelle von Seis am Schlern ist sie umringt von Männern. Seit Ploner ausgeschieden ist, um mehr Zeit für ihre Tochter zu haben, ist Obkircher die einzige sichtbare Retterin weit und breit. Warum eigentlich?

Ehe sie selbst antworten kann, ergreift der Rettungsstellenleiter das Wort: „Das stimmt nicht, es sind viele Frauen dabei.“ „Brutal viele“, stimmt ein junger Mann ein. In den Vereinslisten der Bergrettung Südtirol stehen 42 Frauen, neben 862 Männern, doch viele haben Kinder und sind seither nicht mehr aktiv. „Da ist die Kathrin“, beginnt der junge Mann. „Und die Magdalena aus Lana. Und die Karin aus dem Passeiertal.“ Mehr fallen ihm dann auch nicht ein.

„Wir haben hohe Ansprüche“, sagt einer mit bierernster Miene. „Immerhin müssen die im vierten Grad klettern können.“ Überhaupt seien Frauen keine Vereinsmenschen, weiß ein anderer. „Wenn sie Kinder bekommen, verzichten sie ganz gern drauf.“ Einem dritten fällt auch gleich eine Bergretterin ein, die „weggeschwängert“ wurde: „Da war’s aus mit der Rettungskarriere.“ Bis hierhin hat Kathrin geschwiegen, doch jetzt fährt sie dazwischen: „Und was ist mit den jungen Vätern, die keine Lust haben ihr Leben zu riskieren? Ich kenne so einige, die erst mal in keinen Helikopter mehr einsteigen. Und das ist auch in Ordnung!“

Und plötzlich steht sie mitten im Raum – die Wende. Kathrin Obkircher aus Tiers gehört zu einer Generation, für die Emanzipation kein Schimpfwort mehr ist. Ohne viel Aufhebens darum zu machen hat sie begonnen die Bergrettung von innen heraus zu modernisieren. Mit dem Bild des Superhelden am Berg kann sie nichts anfangen – und als Frau ist sie in der bequemen Außenseiterposition das auch zu sagen. Obkircher hat die Bergretter als heterogene Gruppe mit Stärken und Schwächen erkannt – ein Bild, in dem sich Frauen und insgeheim auch viele Männer wiederfinden. Sie ist Vizeleiterin des „PEER“-Projekts, in dem 14 Südtiroler Bergretter ihre Kollegen nach belastenden Einsätzen anonym beraten. Wie viele Kollegen das Angebot wahrnehmen und was sie besprechen, möchte Obkircher nicht sagen. Nur so viel: „Ein 400-Meter-Fall sieht nicht mehr schön aus. Und der Geruch macht es noch schlimmer. Früher war die Haltung der Landesstelle: Wer das nicht aushält, hat in der Bergrettung nichts verloren. Bei einigen kommen jetzt uralte Erinnerungen hoch – 20, 25 Jahre alte Fälle, die die Retter nie verarbeitet haben.“ Oft hört sie einfach nur zu. Die Bergretter akzeptieren sie eher als eine professionelle Psychologin. Sie ist eine von ihnen.

Bei einem Fototermin auf der Tierser Alm posiert Kathrin Obkircher mit Hanna aus ihrer Klettergruppe. Doch die Elfjährige blickt nur widerstrebend in die Kamera; viel lieber schaut sie ihre Lehrerin an. Hanna klettert seit ihrem dritten Lebensjahr und hat es in Obkirchers Gruppe schon bis in den fünften Grad geschafft. „Für eine Bergretterkarriere würde das jetzt schon reichen“, sagt Kathrin Obkircher. Ob aus Mädchen wie Hanna auch einmal Frauen in der Bergrettung werden – das liegt nun in ihrer Hand.

Headerfoto: CC, www.all-free-photos.com

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