Frau Cunningham, wie viel können Sie in einer Organisation der Vereinten Nationen erreichen?
Zugegeben, unsere Möglichkeiten sind beschränkt. Das Forum spricht ja nur Empfehlungen aus. Wie diese in den Ländern umgesetzt werden, steht auf einem anderen Blatt. Leider haben wir nur ein schwaches Mandat, das kein Monitoring vor Ort vorsieht. Aber unsere Arbeit wird noch durch andere Akteure geschwächt: Die Vereinten Nationen haben keine Möglichkeit, Unternehmen dazu zu bringen die Rechte der Indigenen zu respektieren. Angesichts der Macht von Rohstoffkonzernen ist das ein sehr, sehr ernstes Problem.
Was hält Sie davon ab, für eine Ausweitung des Mandats einzutreten?
Unsere VorgängerInnen sind erfolglos dafür eingetreten, dass das Forum die Einhaltung der 2007 verabschiedeten UN-Erklärung über die Rechte indigener Gruppen in den verschiedenen Ländern überprüfen darf. Doch es haben sich viele Regierungen zusammengeschlossen, um dies zu verhindern.
Sie repräsentieren 370 Millionen Indigene weltweit – was haben all diese Menschen gemeinsam? Gibt es überhaupt so etwas wie eine gemeinsame Agenda?
Oh ja, die gibt es! Das ist auch sehr wichtig, denn angesichts der Bedrohung durch die rohstofffördernden Industrien müssen wir sehr geschlossen auftreten. Wir Indigenen sind entschlossen, unsere jeweils eigenen Weltbilder, unsere eigenen politischen Organisationen und unsere eigenen Wirtschaftsweisen zu bewahren.
Keiner der 370 Millionen Indigenen ist damit einverstanden, dass hinter unserem Rücken Entscheidungen getroffen werden, die für uns lebenswichtig sind. Daher kämpfen wir gemeinsam für unser Recht auf freie, vorherige und informierte Zustimmung. Und schließlich drängen wir darauf, Menschenrechte in einem weiteren Sinne zu verstehen: nicht nur als Rechte des Einzelnen, sondern auch als Rechte verschiedener Gruppen mit ihrer jeweils spezifischen Kultur.
Es gibt aber auch indigene Gruppen, die selbst Menschenrechte gefährden, zum Beispiel das Recht indigener Frauen auf freie Entscheidung und körperliche Unversehrtheit.
Es hat uns viel Kraft und Zeit gekostet, die Forderungen der Frauen in die Agenda aufzunehmen; dieses Thema hat innerhalb indigener Gemeinschaften jahrelang für Konflikte gesorgt. Viele vertraten die Meinung, das solle nicht nach außen dringen und andere Themen – Landrechte und das Recht auf Zustimmung – seien ohnehin wichtiger. Doch nach und nach haben wir uns durchgesetzt, und jetzt sind Frauenrechte explizit in der UN-Erklärung über die Rechte indigener Gruppen festgeschrieben.
Alle 16 Mitglieder des Ständigen Forums sind Indigene, aber nur acht wurden wie Sie von einer indigenen Organisation ausgewählt – die anderen acht von ihren Regierungen. Gibt es da nicht enorme Interessenkonflikte?
Wir sind trotzdem eine ziemlich homogene Gruppe. Viele unserer Kollegen und Kolleginnen, die von den Regierungen ausgewählt wurden, haben zuvor für indigene Organisationen gearbeitet. Wir teilen uns die Mandatsgebiete entsprechend unserer Erfahrungen auf – unabhängig davon, wer uns eingesetzt hat. Letztendlich sind wir alle unabhängige Experten.
Im Forum sitzen VertreterInnen aus so unterschiedlichen Ländern wie Finnland, das den Saami ein eigenes Parlament und Weideland reserviert, und Indien, das auch schon mal einen heiligen Berg der Adivasi an Unternehmen verkauft. Wie schaffen Sie es angesichts so unterschiedlicher Bedürfnisse zu einem Konsens zu kommen?
Sicherlich hat jede und jeder von uns eine eigene Agenda. Wenn es einen Punkt gibt, in dem wir uns nicht auf eine Lösung einigen können, versuchen wir uns streng auf die UN-Erklärung zu beziehen. Wenn wir dann immer noch uneins sind, verzichten wir lieber auf eine Empfehlung.
Bei welchen Themen kommt das vor?
Am wenigsten stimmen wir überein, wenn es um konkrete Beispiele in bestimmten Ländern geht. Wir haben ja nicht alle das gleiche Wissen über die Situationen vor Ort. Daher halten wir die Empfehlungen lieber allgemein, als sie auf spezifische Beispiele hin zu formulieren.
Mal angenommen, ich wäre Mitglied eines indigenen Volkes, dessen Rechte akut verletzt werden. Wie könnten uns die Vereinten Nationen ganz konkret weiterhelfen?
Als Ständiges Forum können wir in einer konkreten Situation wenig tun. Dafür reicht unser Mandat nicht aus. Zuständig wäre der UN-Sonderberichterstatter für die Rechte der Indigenen Völker.
James Anaya.
Ja, an ihn müssten Sie sich wenden. Ihm steht es zu, mit den Regierungen über Rechtsverstöße zu sprechen.
Nur ihm? Und Sie können nichts tun?
Unser Mandat ist eher allgemein. Daher versuchen wir den indigenen Organisationen klar zu machen, dass sie sich bei ihren Appellen auf unsere Mandate beziehen müssen – Kultur, Gesundheit, Bildung, Entwicklung, Umweltschutz und so weiter. Unser Vorgehen ist andersherum: Wir suchen vor allem nach „Best Practices”, um gut funktionierende Mechanismen zu stärken und zum Vorbild zu machen.
Sie selbst gehören der Ethnie der Miskito an, das durch Landraub besonders unter der Somoza-Diktatur gelitten hat. Was war der Auslöser für Ihr politisches Engagement?
Das war während der Sandinistischen Revolution in den Achtziger Jahren. Ich sah darin eine große Chance für uns und andere indigene Gruppen, die immerhin die Hälfte des nicaraguanischen Territoriums bewohnen: Erstmals konnten wir uns von unserer historischen Unterdrückung befreien, Rechte einfordern und für unsere Selbstbestimmung kämpfen. Das war ganz neu für mich, zuvor hätte man uns wohl kaum zugehört – und unsere Forderungen schon gar nicht in Gesetze überführt, wie es plötzlich der Fall war. Das war eine Wasserscheide, ein entscheidender Moment für alles, was wir später erreicht haben.
Sie sind dann sehr schnell von der Straße in die Politik gegangen: als Abgeordnete der sandinistischen FSLN (Frente Sandinista de Liberación Nacional) und später als Gesundheitsministerin. Wie bewerten Sie diesen Schritt heute? Müssen AktivistInnen sich mit ihrer Regierung und den politischen Parteien arrangieren?
Wenn es eine Chance gibt, dass sich unsere Forderungen in politische Richtlinien übertragen lassen, müssen wir diese Chance wahrnehmen. Ich halte es für wichtig, dass sich AktivistInnen zum gegebenen Zeitpunkt auch für öffentliche Posten zur Wahl stellen. Ansonsten werden wir immer nur Forderungen erheben und nie Einfluss auf die politischen Entscheidungen nehmen.
Von welchen Miskito-Werten lassen Sie sich bei ihren alltäglichen Entscheidungen leiten?
Zentral für unsere Kultur ist die Suche nach Konfliktlösungen und Übereinkünften, „laman laka“ genannt. Wir haben eine lange Tradition der Kommunalversammlungen, in denen wir uns alle an einen Tisch setzen und eine Lösung suchen. Dafür muss jeder bereit sein, sich mit anderen Sektoren und Meinungen auseinanderzusetzen und seine eigene Position sehr genau zu formulieren, um niemanden auszuschließen. Geprägt hat mich auch die Idee der „pana pana“: Die Übereinkunft, dass jeder bei der Lösung eines Problems seine Rolle zu spielen hat – nicht mehr und nicht weniger. Ich kann nicht alles alleine erledigen, sondern wir müssen unsere Arbeit aufteilen, uns untereinander abstimmen und helfen. Reziprozität würde man heute wohl dazu sagen. Das setzt auch voraus, dass wir unsere Fähigkeiten entwickeln, um unsere Rolle gut auszufüllen.
Als Indigene habe ich außerdem einen ganzheitlichen Blick auf die Dinge: Nicht nur wir Menschen sind wichtig, sondern auch das Wasser und der Geist des Wassers, der Wald und der Geist des Waldes. Das hilft mir die Welt als Ganzes zu erfassen, in dem jedes Detail eine wichtige Rolle spielt. Als Miskita und Ärztin weiß ich, dass wir krank werden, wenn wir dieses Gleichgewicht verlieren.
In der vergangenen Woche waren Sie erst in Nicaragua, dann in Kenia, schließlich in Istanbul und nun sind Sie wieder zurück in Managua – eine typische Woche für Ihre Arbeit als UN-Delegierte, nehme ich an. Birgt ein solches Jet-Set-Leben nicht die Gefahr, die eigenen Wurzeln zu verlieren?
Die Gefahr besteht, aber wenn ich die philosophischen Wurzeln meines Volkes nicht mehr respektieren würde, hätte ich meine Aufgabe missverstanden. Ich nehme mir immer die Zeit, um in die Natur zu gehen und mich auf meine Wurzeln zu besinnen – und seien es nur drei oder vier Tage im Monat.
Allerdings muss ich dafür nicht zwangsläufig in meiner eigenen Gruppe sein. Gerade habe ich zum Beispiel ein Dorffestival in Nordkenia besucht, bei dem es um traditionelle Ernährung und die Wiederentdeckung alten Wissens ging. Auch dort habe ich gefunden, was mich ausmacht. Wir brauchen die internationale Bühne, denn ansonsten bleiben wir in unseren Gemeinden isoliert und aus all der Verbundenheit mit unseren Wurzeln entsteht auf politischer Ebene gar nichts. Wenn wir unser Modell der Entwicklung in die Welt hinaustragen wollen, müssen wir unsere Basis verlassen.
Beim Thema indigene Bewegungen denken die meisten Leute automatisch an Lateinamerika. Warum ist der Aktivismus dort so viel stärker als in allen anderen Teilen der Welt?
Wir lateinamerikanischen Indigenen haben uns in den letzten Jahrzehnten einen wichtigen Platz auf der politischen Bühne erstritten – auf lokaler und regionaler, aber zunehmend auch auf nationaler Ebene. Dieses politische Gewicht fehlt den meisten Indigenen. In vielen Ländern stehen sie enormen Problemen gegenüber – viele werden von ihrer Regierung ja nicht einmal als eigene Gruppe anerkannt. Viele werden gezielt unterdrückt, oft unter dem Vorwand sie seien Aufständische. In Lateinamerika haben wir uns in viele politische Ämter wählen lassen, um sichtbarer zu werden und unsere Forderungen in Gesetze zu gießen.
Wie können die anderen Indigenen von Lateinamerika lernen?
Wir haben verschiedene internationale Netzwerke gegründet: Im Netzwerk für Klimawandel und nachhaltige Entwicklung tauschen sich zum Beispiel Indigene aus zehn Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas über ihre Erfahrungen aus und laden sich gegenseitig ein. Unsere Schwestern und Brüder aus den anderen Teilen der Welt können dabei von uns lernen, aber wir auch von ihnen: Ihren Mut zum Widerstand unter so schwierigen Bedingungen finde ich bewundernswert.
In der Elfenbeinküste werden MigrantInnen diskriminiert mit der Begründung, ihnen fehle die „Ivoirité”, die indigene Identität der Elfenbeinküste. Und auf der indonesischen Insel Kalimantan haben die indigenen Dayak 2001 Hunderte MigrantInnen ermordet, die von einer anderen Insel umgesiedelt worden waren. Wie kann man vermeiden, dass das Konzept der Indigenität missbraucht wird, um Fremde auszuschließen?
Meist stehen die Indigenen ja auf der anderen Seite: als Vertriebene irgendwelcher Megaprojekte, nicht als Vertreiber. Immer mehr Indigene werden gezwungen ihr Territorium zu verlassen und in die Stadt umzusiedeln. Indigene werden sich in Zukunft immer weniger über ihr Territorium definieren – ihnen bleibt nur ihre kulturelle Identität, ihre Sprache, ihre politischen Organisationsformen.
Anders gefragt: Taugt Indigenität überhaupt noch als Konzept in Zeiten zunehmend hybrider Kulturen?
Im bolivianischen El Alto habe ich indigene Rapper getroffen. Die Jugendlichen übernehmen diesen Stil, den sie aus US-amerikanischen Musikvideos kennen, aber sie rappen in ihrer eigenen Sprache, in Aymara. Das ist die Zukunft! Natürlich dürfen auch wir nicht zu Fundamentalisten werden und uns in unseren Kulturen einschließen. Ich glaube, dass in 100 Jahren die gesamte Menschheit bestimmte Kulturelemente teilen wird und einige Gruppen dennoch ihre eigenen Charakteristika erhalten werden.
Wann könnte das Ständige Forum für Indigene Angelegenheiten seine Arbeit einstellen? Was ist Ihr langfristiges Ziel?
Das Forum wurde geschaffen, um der Marginalisierung der Indigenen in den einzelnen Ländern auf UN-Ebene ein politisches Instrument entgegenzusetzen. Schon bei den Staatsgründungen wurden die Indigenen ja fast ausnahmslos ignoriert. Die Gründung des Forums 2002 und die Annahme der UN-Erklärung über die Rechte indigener Gruppen 2007 stellen nur die ersten Schritte dar. In den Siebziger und Achtziger Jahren dachten wir noch, wir könnten innerhalb von 20 Jahren eine UN-Konvention über die Indigenenrechte aus dem Boden stampfen – aber davon sind wir auch heute noch weit entfernt. Wir sind gerade erst dabei die UN-Erklärung zu implementieren und das Mandat des Forums zu festigen. Ich habe keine großen Erwartungen; es wird wohl noch sehr lange dauern, bis unsere bei den UN festgeschriebenen Rechte in den Staaten wirklich respektiert werden.
Myrna Cunningham tritt seit 30 Jahren aktiv für Indigenenrechte ein: als Leiterin des Inter-American Indigenous Institute und vieler weiterer Institutionen bis hin zum UNPFII sowie als Gründerin der University of the Autonomous Regions of the Caribbean Coast of Nicaragua (URACCAN). 2002 wurde sie mit dem Pan American Health Organization’s Public Health Heroine of the Americas ausgezeichnet. Sie war die erste Miskito-Ärztin in Nicaragua.
Das Gespräch habe ich Ende April 2012 am Telefon geführt und aus dem Spanischen übersetzt.
Zum Weiterlesen:
UN Permanent Forum on Indigenous Issues: http://www.un.org/esa/socdev/unpfii
UN Special Rapporteur on the rights of indigenous peoples: http://unsr.jamesanaya.org
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