Es war ein besonders friedlicher Morgen an jenem 2. Weihnachtstag 2004. Kein Vogel war zu hören, kein Wind, keine Welle. Das Wasser hatte sich weit aufs Meer zurückgezogen und Kinder liefen auf den Strand, um verendete Fische aufzusammeln… Als sie das Rauschen hörten und die Wasserwand sahen, war es schon zu spät. Mindestens 230.000 Menschen verloren an jenem Morgen ihr Leben.
Unbemerkt hatte ein Seebeben vor der indonesischen Küste riesige Wassermassen in Bewegung gesetzt, die mit der Geschwindigkeit eines Flugzeugs fast alle Küsten der Welt erreichten. Im Pazifik schlug das Warnsystem an, vor Ort im Indischen Ozean nicht. Es gab keines.
In den Tagen nach dem Tsunami verfassten Ethnologen Nachrufe auf ganze Inselgruppen; so unwahrscheinlich schien es, dass die Bewohner der flachen Andamanen, Nikobaren oder die Seenomaden der Moken überlebt haben könnten. Doch als das Wasser über ihren Hütten zusammenschlug, waren diese längst verlassen – anders als die Touristenstrände. Die Moken und andere Ethnien haben seit jeher ihre eigenen Warnsysteme, die ohne seismische Messungen auskommen.
Selbst die jüngeren Seenomaden, die noch keinen Tsunami erlebt haben, haben von den „menschenfressenden Wellen“ gehört, den „Laboon“. Lokalen Legenden zufolge lassen Geister hin und wieder alles Wasser im Nabel der Erde verschwinden, um es dann als Wellen wieder auszuspucken. Als sie beim Fischen Tiefseebewohner in ungewöhnlich flachen Gewässern beobachteten, wunderten sich die Moken nur; doch als Wochen später schließlich das Meer verschwand und die Zikaden verstummten, rannten sie um ihr Leben. Gerade noch rechtzeitig.
Tsunamis entstehen durch Seebeben, Erdrutsche, Vulkanausbrüche oder Meteoriteneinschläge – Erschütterungen, die kilometerhohe Wassersäulen in Schwingungen versetzen. Wie ein akustisches Signal breitet sich der Tsunami in alle Richtungen aus und schickt Wellenpakete mit unterschiedlichen Frequenzen und Amplituden rund um die Welt. Auf offener See werden die Wellen allenfalls 50 cm hoch; erst im flacheren Wasser werden sie gestaucht, brechen und erreichen an Land bis zu Hundert Höhenmeter. Weil sie nach einem normalen Tag auf See ein völlig zerstörtes Ufer vorfanden, tauften japanische Fischer das Phänomen Tsunami, „Welle im Hafen“. Ihre Unauffälligkeit macht Tsunamis zur fatalsten Naturkatastrophe überhaupt – und das uralte Wissen der Küstenbewohner so kostbar.
Dabei sind sie bisher sehr selten: Nur ein Prozent der Erdbeben lösen überhaupt messbare Tsunamis aus; dafür müssen sie eine Stärke von mindestens 7 auf der Richterskala erreichen, nahe der Erdoberfläche am Meeresboden stattfinden und diesen vertikal verschieben. Die meisten Tsunamis ereignen sich auf dem Pazifischen Feuerring; hin und wieder entstehen sie jedoch auch an europäischen Küsten – wie etwa 1908 vor Italien im Mittelmeer, wo in Messina fast 100.000 Menschen getötet wurden. Der Tsunami vor Japan am 11. März 2011 forderte unmittelbar zwar längst nicht so viele Tote, doch er löste die nukleare Katastrophe von Fukushima aus.
Nie zuvor hat ein Tsunami so viele Leben gefordert wie vor zehn Jahren in Südostasien. Der britische Geologe Bill McGuire geht in seinem gleichnamigen Buch davon aus, dass der Klimawandel „Riesen weckt“: Seiner Prognose zufolge wird es infolge der globalen Erwärmung zunehmend mehr Erdbeben, Vulkanausbrüche und Tsunamis geben. Wenn Eisvorkommen schmelzen, heben sich darunterliegende Landmassen um mehrere Meter, so der Wissenschaftler; dies könne wie am Ende der letzten Eiszeit zu einem plötzlichen Ausbruch geologischer Aktivitäten führen.
Mittlerweile wurde vor der indonesischen Küste ein vom Geoforschungszentrums Potsdam entwickeltes Frühwarnsystem installiert, das in Echtzeit Daten ermittelt und mit anderen Systemen weltweit austauscht.
Dennoch werden lokales Wissen und angepasste Reaktionen auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Nur wenige Kilometer vom Epizentrum des Bebens entfernt überlebte fast eine ganze Insel: Simeuluë in Indonesien. 1907 hatte ein Tsunami dort viele Menschen in den Tod gerissen; weil die Überlebenden die Erinnerung mündlich überliefert hatten, blieb ihren Ururenkeln dasselbe Schicksal erspart. Die Geister waren nachsichtig.
Headerfoto: (CC) Die große Welle vor Kanagawa, Katsushika Hokusai, um 1830