Reglos liegen die Tänzer da, mit verrenkten Gliedmaßen zwischen den Körperteilen des achten Ensemblemitglieds, eines Crashtest-Dummies. Zuvor fünf Minuten Tanz in Überschallgeschwindigkeit: entfesseltes Stakkato nackter Fersen auf nacktem Boden, absurder Hindernislauf mit Büroutensilien, Rempeleien gegen andere und sich selbst – eine Tarantella der Moderne. Bloß, dass dieser Tanz nicht die Heilung, sondern das Symptom einer Krankheit darstellt: unseres restlos effizienten und rastlos beschleunigten Informationszeitalters.
Mit ihrem Tanztheaterstück “Endstation Echtzeit” thematisiert die südafrikanische Regisseurin Yvette Coetzee schon zum zweiten Mal den rasenden Puls der Großstadt. Doch während ihr U-Bahn-Märchen “Die Wahl der fantastischen Möglichkeiten” (2005) noch auf eine Begegnung im Menschentrichter hoffen lässt, ersticken die Figuren ihres neuen Stücks in fatalistischer Passivität. Die Jäger und Sammler von gestern haben sich zu Gejagten entwickelt, die sich am Ende vom Notdienst aufsammeln lassen. Die Inszenierung beginnt mit und kulminiert im Zusammenbruch, den die Figuren bei jeder hektischen Sinnlosgeste schon mitdenken, ja herbeisehnen; nur bei der Wiederbelebung erfahren sie Zärtlichkeit.
Drei Mal lösen sich die Protagonisten aus ihrer Vereinzelung: im Fastfood-Imbiss, in der U-Bahn und beim Unfall – Momente wie sie Kurt Tucholsky 1930 in seinem Poem “Augen in der Großstadt” festhielt. Doch 2009 sind die Augen müde und misstrauisch geworden; Tucholskys Sinn für romantisch-melancholische Gefühle ist ihnen abhanden gekommen: “vorbei, verweht, nie wieder!”
Mangels Alternativen setzen sich die Protagonisten dem vergeblichen Wettlauf mit der Zeit schonungslos aus: In einer Szene arbeitet sich Puppenspieler Florian Feisel im Schnelldurchlauf durch die letzten Monate, Wochen, Tage seines Lebens, indem er einen Abreißkalender zerfleddert: fünf Wochen für die Stückentwicklung, wöchentlich ein Showing, Kalender basteln nach jeder Vorstellung. Rritsch, rrrratsch. Lieblos zerfetzt er die soeben vergangenen Minuten und Sekunden, bis er mit einem Freudenschrei in der Echtzeit ankommt: “Jetzt kann ich Gegenwart leben! Mein eigener Zeitgenosse sein!”
Doch das Glück des Gegenwärtigen währt nicht, erbarmungslos rast die Zeit davon – und der moderne Sisyphos hinterher. Yvette Coetzee geht weit über die tanztheatertypische Verweigerung jeder leeren Virtuosität hinaus, indem sie die Anstrengung und den Stress der Tänzer sichtbar macht. Kurz vor Stückbeginn hastet ein Schauspieler durchs Foyer davon. Er müsse nur kurz noch aufs Klo, so etwas passiere halt, informiert achselzuckend die Einlasserin, für einen Moment Teil des Spiels. Nur eine weiße Linie trennt den Garderoben- vom Bühnenraum: Während die Schauspieler dahinter gierig trinken und essen, sich mit Tüchern ab- und mit Deos einreiben, spielt sich davor in albtraumhafter Synästhesie der Actionfilm des Alltags ab. Nur Millimeter und Minuten trennen den totalen Stillstand von der extremen Beschleunigung; mit “stop!”- und “go!-Rufen wechseln sich beide Welten im Improstil ab.
Ein unausgegorener Satz beendet das Stück so unvermittelt wie ein Unfall das Leben beenden kann. Auch hier wieder: die kalkulierte Enttäuschung; auf die Überforderung folgt die Unterforderung des Publikums. Doch vor allem erinnert diese dramaturgische Geste an den experimentellen und prozesshaften Charakter einer Inszenierung, die ihr Thema, die Beschleunigung, zur Methode macht.
Denn “Endstation Echtzeit” ist zugleich Ablehnung und Bejahung der Geschwindigkeit, ein Labor im Sinne des Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio, der in “L’accident originel” (2005) schrieb: “Um nicht morgen zu Zeugen eines Unfalls globalen Ausmaßes zu werden, […] müssen wir heute schon das Labor der Naturkatastrophe bauen, bewohnen und bedenken.” Unter dem erschöpften Applaus von gerade einmal zwei Dutzend Zuschauern bleiben in Coetzees Bühnenlabor nur die Gliedmaßen eines zerschmetterten Dummies zurück; das menschliche Ensemble dagegen hat den Crashtest bestanden.
Foto: Jörg Lipskoch/ I SHOT