Tanz auf dem Vulkan

Auf der ersten Großdemonstration beim Kopenhagener Klimagipfel ist die Stimmung apokalyptisch und ausgelassen. Die dänische Polizei nimmt fast 1000 Demonstranten fest.

verbreitet über die Nachrichtenagentur epd (Evangelischer Pressedienst) am 12.12.2009 um 16:45 Uhr >>, gedruckt in Welt >>, Berliner Morgenpost >>, Aachener Nachrichten, Märkische Oderzeitung, Ostthüringer Zeitung

“Wir brauchen einen Arzt, sofort, das ist ein Notfall!” Der gellende Ruf der Aktivistin lässt den Protestzug zusammenzucken. Damit hatte insgeheim jeder gerechnet bei dieser vorerst größten Demonstration des Kopenhagener Klimagipfels am Samstagnachmittag: Ein Notfall, ein Aufprall, eine Festnahme! Apokalyptisch war die Stimmung in den letzten Tagen in Kopenhagen. Während drinnen im Konferenzzentrum Entwicklungsländer mit Industrienationen rangen, kochte draußen die Gerüchteküche: Autonome Gruppen hatten angekündigt, das Zentrum zu stürmen; währenddessen hinderte die dänische Regierung ausländische Demonstranten an der Einreise und zeigte Bilder von Käfigen in einer Lagerhalle, in denen sie 350 Störenfriede bis zu 72 Stunden festhalten kann.

Doch der Hilfeschrei gilt keinem Demonstranten, er gilt der Erde. Der riesige Ballon auf den Schultern der Aktivisten schwankt, rollt über Köpfe hinweg und plumpst in die Menge. Zigtausend Umweltaktivisten haben seit 13 Uhr vor dem Sitz des Kopenhagener Parlaments für ein faires, ehrgeiziges und verbindliches Abkommen auf dem Klimagipfel COP15 protestiert. Wie viele es tatsächlich sind, darüber scheiden sich die Geister: Die Polizei spricht von 25.000 Demonstranten, die Veranstalter selbst wollen 100.000 Aktivisten gesichtet haben. Eine Demonstration der Superlative ist es allemal: Über 500 Umwelt- und Klimaorganisationen, soziale und kirchliche Gruppen aus 67 Ländern haben sich unter dem Motto „Zuerst der Planet, zuerst die Menschen“ („Planet first, people first“) auf dem Christiansborger Schlossplatz versammelt.
Finn Ovesen schaut sich versonnen auf dem Schlossplatz um, wo Tausende junge Leute in chaotischer Fröhlichkeit um Transparente, Kaffeekannen und umeinander hüpfen, einige zu Technobeats und Sambarhythmen, andere gegen die Kälte. Viele könnten seine Enkel sein. Die klare Wintersonne scheint auf Ovesens weißen Bart, rote Fahnen wehen hinter seinem langen Haar, da lacht er plötzlich auf: “Das ist genau wie damals!” Will sagen, genau wie 1968, als sie an der Universität Aarhus erst gegen den Vietnamkrieg und dann gegen den Kapitalismus gekämpft haben.
Nicht immer betrachtet die ältere Generation das Engagement der Jungen so wohlwollend. Florian Hobert, Lehrer an der Umweltschule Neustadt am Rübenberge, ist mit 16 Schülern aus dem Wahlpflichtfach Nachhaltigkeit für wenige Tage nach Kopenhagen gefahren. Neun Schüler mussten zu Hause bleiben, weil ihre Eltern befürchteten, sie würden zu viel Unterrichtsstoff verpassen.
Für alle anderen Schüler von Florian Hobert spielt sich der Unterricht auf den Straßen von Kopenhagen ab; sie begegnen Aktivisten vom Küstenentwicklungsprogramm aus Bangladesh und den Bewohnern des Kopenhagener „Freistaats“ Christiania, einem chinesischen Vegetarierbund und dem deutschen BUND für Umwelt und Naturschutz. Doch auch große internationale Organisationen wie Greenpeace, Caritas, Attac und der Weltkirchenrat haben ihre Banner aufgespannt. Sie alle, Junge und Alte, bunt Kostümierte und finster Vermummte tragen ihre Protestschriften und Parolen auf 17 alten Schiffssegeln sechs Kilometer durch die Stadt, um sie vor dem Konferenzzentrum dem Generalksekretär des Klimaabkommens (UNFCCC) Yvo de Boer zu überreichen.
Kristian Louis nimmt den Klimawandel mit erstaunlichem Galgenhumor: Der 26-jährige Grönländer jongliert mit Orangen und scherzt, bald könne er die auch zu Hause pflücken. Für Rafael Alegría ist das schon längst kein Spaß mehr: Mit erhobener Faust führt der 57-jährige Erdbeerbauer aus Honduras eine Gruppe lateinamerikanischer Landwirte unter der grünen Flagge der “Via Campesina” durch die Straße; dabei schaut er so entschlossen als halte er seine Faust dem Präsidenten von Honduras persönlich unter die Nase. Dreimal schon ist in diesem Jahr in das Büro der Bauernorganisation eingebrochen worden; Alegría vermutet dahinter die Militärs der Putschisten, die kein Interesse an ihrem Kampf für Land- und Klimarechte haben.
“Bei den bisherigen Verhandlungen kam nicht zuerst der Planet und nicht zuerst die Menschen, sondern die Politiker selbst”, seufzte Organisator Knud Vilby noch kurz vor Beginn der Demonstration. Und seine Sprecherin Amrekha Sharma ergänzte: “Wir fordern nicht zur Gewalt auf, aber wir verstehen, dass viele Leute frustriert sind.” 6.500 Polizisten waren auf den Straßen, Kanälen und in der Luft im Einsatz; bis zum Mittag hatten sie gerade einmal 19 Demonstranten vorläufig festgenommen. Finn Ovesen findet das gut: „Die Aktivisten von heute sind eben pragmatischer als wir. Wir haben es nicht geschafft, aber diese Kids versuchen es jedenfalls noch einmal!”

(in 2 Stunden mit glühend heißer Nadel gestrickt)