Das Licht des ersten Morgens – Post aus Buenos Aires

Rundmail, mit der ich 2005 den Blog “Vivir para contarla” – und ein neues Kapitel meines Lebens – eröffnet habe >>

Hallo zusammen, hola todos, salut!

Viele Grûsse aus einer argentinischen Sommernacht! Schwer zu glauben, dass es erst vier Tage her ist, seit ich über die wintermärchenhafte Sauerlandlinie zum Frankfurter Flughafen gefahren bin – hier im Chaos der Strassen von Buenos Aires, wo sich die Vegetation und die Lebensfreude auch dort noch ihren Weg bahnen, wo vor lauter Beton oder Armut keiner mehr zu sehen ist, in dieser filmreifen Kulisse zwischen Palmen und Tangobars, halb zerfallenen bunten Lastwagen, aus denen rauchend die schönsten Männer lehnen und jedem Mädchen Sachen hinterherrufen, die ich noch nicht verstehe und auch nicht unbedingt immer verstehen will.
Sitze hier gerade in einem Internetcafé zwischen sieben Halbstarken eingekeilt, die lautstark miteinander zocken. In der Ecke der Teenager, der hier die ganze Nacht aufpassen wird, aber offensichtlich nichts dagegen hat: Denn alle zwei Minuten schaut seine Freundin auf eine Pizza oder einen allerletzten Gutenachtkuss herein. Am seltsamsten aber sind die riesigen Papiermonde, die über uns im Wind schaukeln, der von der Strasse hineinweht und dem Namen der Stadt Buenos Aires alle Ehre macht. Dieser Wind erinnert mich immer wieder an meinen Flug, daran, wie nah der Ozean ist…
Der Flug sollte 16 Stunden dauern, nach 20 Stunden waren wir dann auch wirklich da, nach 24 Stunden mit Koffersuchen und Schlangestehen sogar draussen – Rückblick in mein Reisebuch: Mitternacht: Madrid liegt unter uns wie ein goldener Inkaschatz, als hätte die ganze Stadt uns zuliebe die Weihnachtsbeleuchtung angeschaltet. Dabei geht das Leben dort unten ganz normal weiter – eine Mutter bringt ihre kleinen Kinder ins Bett, ¡buenas noches!, zwei Blöcke weiter ihr Mann die Nachbarin, ¡cariña!.. alles nimmt seinen gewohnten Lauf, und über ihren Köpfen bringt eine Iberia ein paar hundert Europäer, gescheiterte oder hoffnungsfrohe Existenzen, in ein paar hundert neue Leben:
Homo Faber in der Reihe hinter mir war in Namibia und hat viel zu berichten von Namibia, da war das dritte Triebwerk auf der rechten Seite ausgefallen und gab es nicht einen Überschallstart? – jaa, Namibia war schön! Ach, Namibia…
Reisebekanntschaften: Ein paar ältere Ehepaare aus Deutschland, die sich furchtbar wegen der Verspätung ängstigen und kein Wort Spanisch sprechen, mich wie ihre Tochter behandeln und von ihren Kindern erzählen, die auch in Göttingen studieren. Ich lasse mich vorerst nicht adoptieren und lerne meinen Sitznachbarn kennen, Typ Grossindustrtieller wie aus “Die fetten Jahre sind vorbei”, Alt-68er, inzwischen zur “Lebensfreude” konvertiert: in Chile unter Pinochet zum grossen Geld gekommen und ¡claro que sí! begeistert vom chilenischen Wirtschaftsaufschwung. Dass der auf Kosten der Bevölkerung ging und ein paar (Tausend) ‘Subversive’ in Folterkammern verschwanden tut er lässig ab, er rechnet offensichtlich nur mit grossen Zahlen und mir die Opferzahlen auf ein verträgliches Mass herunter. Haarsträubende Geschichte, dabei versucht er nicht unsympathisch zu wirken und ist offenbar mit der ganzen Manager-Clique von Lateinamerika befreundet – glaub ich ihm aufs Wort, dass da solche Leute wie er sitzen! Zum Glück treffe ich noch einen lustigen italienischer Dialektologe, dessen Italofranzösisch ich besser verstehe als die nebulösen weltumspannenden neoliberalen Ideen meines “Landmannes”.
6 Uhr: Irgendetwas rüttelt mich aus dem Schlaf, es sind die Tragflächen, an denen die Winde zerren und schieben. Die Flügelspitzen zittern – wir sind alle ganz plötzlich wach und zittern mit. Über die Bildschirme flackert der Abspann eines Films, den keiner gesehen hat, die Wolken, vorher weiss und rund wie Teller von Riesen, sind nur mehr winzige Rechtecke, die mich in ihrer exakten geometrischen Anordnung auf dem schwarzen Meer an Soldatengräber erinnern – komisch, was einem da so auffällt. Unser Luftschiff wogt immer stärker hin und her, die angespannte Stimme des Piloten fordert uns auf, die Fensterklappen zu schliessen – das macht es nicht besser. Aber die Flaute macht es besser, der Wind beruhigt sich und ich luge unter den Klappen durch – gerade in dem Moment, da wir auf die Küste von Brasilien treffen. Ein Wahnsinnsanblick: Gerade hat uns die Sonne eingeholt und erleuchtet den Himmel in einer wilden Mischung aus violett und gold und dunkelblau, und von der Küstenspitze aus schickt ein Leuchtturm sein Licht in den einsamen ersten Morgen…
Und doch war der Flug noch viel zu kurz, um mir diese enorme Entfernung und das komplett andere Leben bewusst zu machen. Am liebsten hätte ich es wie meine Mitbewohnerin gemacht und irgendein Transportschiff genommen.
Inzwischen habe ich die ersten kulturellen Stolpersteine schon hinter mir, aber immerhin auch die erste wilde Party, mit Tango-Privatunterricht 🙂 Solltet Ihr im Laufe meiner Argentinischen Briefe beschliessen, dass Ihr
Euch das hier nicht entgehen lassen dürft, könnt Ihr mich gerne hier besuchen :o) Wohne unter einem Dach mit Gastfamilie und vier Mitbewohnern – nicht zu vergessen die Schildkröte Simón, die auf der Dachterrasse lebt! Den Innenhof teilen wir uns mit schätzungsweise tausend Kindern, die ich noch nie gesehen, aber dafür um so besser gehört habe. Sie beginnen zu einer Zeit mit dem Versteckenspielen, un dos tres…, da ich gerade noch Schäfchen zähle.. Wobei mir einfällt, dass ich das heute vorziehen werde, weil ich morgen früh im Goethe-Institut anfange und ja noch fünf Monate Zeit habe, Euch mit auf die Reise zu nehmen durch die Strassen von B. Aires, zu den Magellan-Pinguinen und den Orka-Walen, zu Lucía in die argentinische ‘Klein’stadt Tucuman, zu den schwimmenden Inseln des Titicacasees und bis in die entlegensten Dörfer der peruanischen Anden…

Vom Ende der Welt grüsst

Christina