Wie ein Frosch im Wasser – Radio Grenouille 888

Was macht der Radiomensch, wenn er sich einmal im Jahr in der Öffentlichkeit zeigen muss? Auf einer Bühne noch dazu?

Unser tägliches Plateau beim „19. Festival International du Documentaire“ wird als öffentliches Live-Podium angekündigt: Der Frosch kommt aus seinem Tümpel gedümpelt und zeigt sich der Welt!
Unsere Redaktion ist für eine Woche in den Umkleideraum des Theaters gezogen und kommt jeden Abend zwischen 18-19 Uhr auf die Bühne gehüpft – und gleichzeitig in die Frequenz 88.8. Die Bühne ist uns egal, wir schleifen die Kulissenatmosphäre so weit wie möglich mit: Erst auf Kussdistanz zum Mikro beginnt der öffentliche Raum. Die wenigen Besucher des Theatercafés sind ohnehin ganz in die Augen ihres Gegenüber vertieft. Die beiden geschwätzigen Tische, die da in der dunkelsten Ecke des Raums aufgebaut sind, stören kaum.
Radiomenschen wissen ja nichts so gut zu kultivieren wie die Privatheit ihres Aussehens; wenn die Stimme schon öffentlich ist, dann soll das Hemd umso knitteriger sitzen, die Schnürsenkel offen und der Atem tabakschwer sein dürfen. Mit Schadenfreude denkt man an die Fernsehkollegen. Wenn jemand das Medium wechselt, dann sicher nur vom Fernsehen zum Radio, mit zunehmendem Alter vielleicht, niemals andersherum. Wer einmal beim Radio war, genießt es viel zu sehr, zu spät zur Sendung zu kommen, im laufenden Programm die Texte Korrektur zu lesen und Faxen zu machen sobald ein anderer das Sprechen übernimmt – am schlimmsten sind die Cutter in ihren schallgeschützten Pegelräumen! Das sollte mal jemand aufnehmen und über den Äther schicken; vom spontanen Unterhaltungswert, den zwei Tontechniker in der Lästerkammer schaffen, können gelernte Journalisten nur träumen. Für den Hüter des Programmauftrags wäre das allerdings ein Albtraum.
Im Théâtre „La Criée“ herrscht ein ständiges Kommen und Gehen, am Tisch sitzt nur, wer wirklich in den nächsten fünf Minuten seinen Auftritt hat. Die kleinsten Journalisten (moi, par exemple) laufen Wörter wiederkäuend auf und ab, die größten ViPs rennen keuchend vom letzten Termin aufs Plateau. Hinter unserer cinematographischen Artusrunde gibt eine große Fensterscheibe den Blick auf den alten Hafen von Marseille frei. Tausende weiße Segelboote schaukeln auf unsichtbarem Wasser. Eine Handbreit von unserem Plateau läuft ein Hans-guck-in-die-Luft mit Badehandtuch und Plastikpaddel vorbei, auch er träumt vom Meer. Die seltsamen Geräusche hinter der Scheibe holen ihn ins Diesseits zurück. Er öffnet kurz die Tür und lässt sie Sekunden später gelangweilt zurückfallen. Jetzt höre ich auch mal rein: „…j’ai rien de particulier à dire là-dessus.“ Einer der Festivalmanager hat schon zur ersten Frage nichts Besonderes zu sagen. Mir verschlägt es auch gleich die Sprache. Ich drehe mich schnell ab, schäme mich mit und kann mir das Grinsen nicht verkneifen. Vielleicht hätten wir besser seine Praktikantin einladen sollen.
Dann fällt mein Name, ich springe an den Tisch und bekomme ein Mikro rübergerollt. Unsinnigerweise fällt mir noch auf, dass Marc seine einstündige Moderation mit der Hand geschrieben hat. Ich dagegen halte zwei frischbedruckte Blätter voller Tippfehler in der Hand, die von den Verirrungen einer deutschen Blindschreiberin auf einer französischen Tastatur berichten. Ich berichte von etwas ganz anderem: Von einem Film, der die tägliche Odyssee afrikanischer Migranten durch die Sahara bis zu den Mittelmeerhäfen verfolgt. In meiner Stimme hallt das Odyssee-Thema noch einmal nach, nur in umgekehrter Richtung, von Norden nach Süden. Spanische Namen klingen plötzlich französisch und mein Französisch dennoch deutsch. An der sprachlichen Anpassung muss ich noch mal drehen, da kann der Techniker nix mehr machen. Aber eigentlich sollen die Franzosen erst einmal anfangen, die mir ihren Akzent auf die falschen Worte gedrückt haben und deren Englisch man untertiteln muss! Pues, bon, na ja, ich verrate mich also. Zum Glück bin ich keine illegale ausländische Praktikantin, sondern ganz offiziell Cristiná Fleschén, die Unaussprechliche.
Ganz anders die Migranten aus dem Film „Mirages“, die uns im Großformat von den Leinwänden Marseilles anschauen und etwa gleichzeitig tatsächlich hier ankommen, als „Illegale“. Den bedenklichen ikonographischen Clash hat Filmemacher Olivier Dury herbeigeführt. Ich habe ihn am Morgen getroffen. Aus seinen Worten spricht eine Mischung aus Blauäugigkeit und totaler Verantwortungslosigkeit. Meine Frage überrascht ihn. Während der Dreharbeiten hätten die Migranten doch noch nichts davon gewusst, dass sie in Europa zu Illegalen würden. Ja, aber er doch… Dury lacht, räuspert sich, schüttelt den Kopf und die Frage ab: Er könne sich kaum vorstellen, dass „die geschätzte Regierung“ seinen Film unter diesem Gesichtspunkt registrieren würde. In welcher Welt lebt Dury? Die halbe linke Szene in Göttingen steckt in solchen Karteien – und ausgerechnet Sarkos Beamtenstab soll darauf verzichten. Dieses Mal lache ich, aber es klingt nicht fröhlich.

Kurzversion des Interviews:


(3’30 zu Beginn der Sendung, falls der Player nicht funktioniert einfach diesem Link folgen und ganz unten das “Magazine du 5 juillet 08” öffnen)

Die very important Gäste springen von den Sitzen auf, sobald ich die Hörer ablenke und verabschieden den Moderator mit lauten Worten und noch lauteren Wangenschmatzern. Biiiiis! Ich höre nicht ein Wort meines Beitrags, aber in dieser Atmosphäre ist es ohnehin schwer vorstellbar, dass dies nicht nur ein abstruses Abendessen zu fortgeschrittener Stunde ist. Die Gästen bechern unterm Tisch weiter und ich springe von Liaison zu Liaison, von Seerosenblatt zu Seerosenblatt… Vive la Grenouille!