In einem toten Winkel von Berlin-Wedding sitzt Armagan Isbay träumend vor seiner Pizzeria, als ihn das Leben mit voller Wucht erwischt. Reflexartig greift er zu: Aus der Papierrolle in seiner Hand schälen sich Grafiken, Fotografien und Siebdrucke wie er sie noch nie gesehen hat. Ehe Isbay aufspringen und sich bedanken kann, ist die Werferin in einem Fahrradtross verschwunden, der klingelnd, klappernd und krakeelend an ihm vorbeibraust. Hundert Reifen surren über den Asphalt, bis nur noch die hitzeschwere Luft vibriert wie nach der Invasion eines gigantischen Bienenschwarms.
Während “Paperboys”, die US-Zeitungsboten, überwiegend die schlechten Nachrichten des Tages bringen, verheißen die “Papergirls” nur Gutes: Hier reichen sie das die Kunst-Geschenke durch ein Autofenster, dort schieben sie eine Rolle auf einen niedrigen Balkon, hier lassen sie eine andere in eine offene Handtasche gleiten, 584-mal. Sie hinterlassen ganze Straßenzüge voller Passanten, die verdutzt und verzückt zwischen Tür und Angel stehen und ihre persönliche Kunstrolle entblättern.
Mittendrin, auf einem aberwitzig hohen “Mutanten-Rad”: Projektleiterin Aisha Ronniger. Was vor vier Jahren als Jux unter Designstudentinnen begann, krempelt inzwischen die weltweite Street-Art-Szene um. Denn Ronniger fand eine Möglichkeit, das Plakatierverbot im öffentlichen Raum zu umgehen: “Man müsste den Leuten die Kunst einfach vor die Nase werfen.” Jahr für Jahr ist das Projekt größer, internationaler und multimedialer geworden: 238 Künstler aus 18 Ländern reichten 2010 per Post ihre Arbeiten ein – Originale wie Reproduktionen. Blogger, Filmemacher und Fotografen haben die Idee auch international bekannt gemacht: Mittlerweile hat das Berliner “Papergirl” Schwestern in New York, Kapstadt, Bukarest und Manchester bekommen.
Analog und anachronistisch
Dabei setzt Aisha Ronnigers Kunstprojekt auf anachronistisch anmutende Werte – auf das Geschenk und die handwerkliche Arbeit, die sie durch die Digitalisierung verschwinden sieht: “Das Gefühl für die Dimension und die Haptik eines Werkes gehen im Internet verloren, ebenso das Gefühl für den Wert der Arbeit.” Falsche und wahre Freunde sowie ins Virtuelle entrückte Alltag stehen auch im Zentrum vieler Arbeiten: “I don’t wanna be U’re friend on facebook”, warnen die Plakate von “SP38”. Und Claudia Berhardt stellt eine Frau mit Koffer dar, die an alles gedacht hat – nur nicht an ihr Ziel: “Wohin?”, fragt ihre Gedankenblase. Beim “Papergirl”-Projekt entscheidet allein der Zufall diese Frage: Nach knapp zwei Stunden sind die Kostbarkeiten in alle Winde verweht. “Zurück bleibt nur Adrenalin”, sagt Ronniger und hält sich lachend an einer Ampel fest.
Straßenkunst ist Luxus
Mit dieser Unbeschwertheit wollen Andreea Gazdaru und Bianca Mihai auch ihre Heimatstadt Bukarest anstecken, wenn sie dort im September das erste “Papergirl”-Festival organisieren. “Street Art ist Luxus in Rumänien”, sagt Gazdaru, die wie ihre internationalen Kollegen auch mit einem Stipendium am Berliner Projekt teilnimmt. “Viele würden gerne ihre Arbeiten einreichen, können sich aber nicht einmal die Druckkosten leisten”, bedauert die 25-Jährige, die selbst gerade ihren Job in der Künstler-Förderung aufgegeben hat, weil sie davon nicht leben kann. Die Rumäninnen – beide mit Riesensonnenbrille und Vintage-Kleid – genießen ihre Rolle als Pioniere dennoch. Sie können noch provozieren, wo die Berliner gar nicht reagieren: “Schon das gemeinsame Radfahren wird für Aufsehen sorgen”, kichert Gazdaru, die dafür erst eine städtische Genehmigung einholen will: “In Rumänien ist die Welt noch in Ordnung: Kunst gehört den Museen und die Straßen den Autos.” Das wollen die beiden jetzt schleunigst ändern.
Flugverbot für Unbekannte Kunst-Objekte
Auch Marcii Goose könnte die Aktion unmöglich eins zu eins nach Kapstadt übertragen. Die Passanten würden angesichts der unbekannten Flugobjekte panisch die Flucht ergreifen, glaubt die gebürtige Südafrikanerin und deutet lakonisch auf eine frische Narbe über dem Handrücken: “Deshalb.” Fliegende Kunst sei selten in Kapstadt, fliegende Pflastersteine schon häufiger. Bei der dritten “Papergirl”-Aktion, die sie gerade im Künstler- und Armenviertel Woodstock organisisiert hat, ließ sie sich deshalb viel Zeit, um den Auserwählten die Kunst direkt in die Hand zu drücken und sich mit ihnen zu unterhalten. “Wir wollen nicht provozieren, sondern nur beglücken.”
Und das ist Marcii Goose gelungen: “Zum Höhepunkt der Weltmeisterschaft war die Stadt erfüllt von guter Energie und Solidarität”, erzählt Goose. Als die 32-Jährige vor gut einem Jahr Berichte über das Berliner Papergirl-Projekt im Internet entdeckte, war das für sie auch eine persönliche Lebenswende: “Als Creative Director habe ich zehn Jahre lang die Kunst dem Kommerz unterstellt. Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt. Das hat jetzt ein Ende.”
Das “Papergirl”-Projekt ist eine der letzten professionellen Plattformen, auf der sich Kunst ihrer Vermarktung und Vereinnahmung entzieht. Selbst im street-art-erfahrenen Berlin hat Ronnigers Konzept viele irritiert: den misstrauischen Zollbeamten, ihren schwer beladenen Briefträger und die Kunstliebhaberin, der sie die Werke nicht verkaufen wollte. Aisha Ronnigers größte Rolle will jedoch niemand geschenkt haben: die Rolle der Nachfolgerin. Die frisch gebackene Graphik-Designerin ab sofort eigenen Ausstellungen widmen und die nachrückende Bachelor-Generation ist zu eingebunden, um monatelang ein Kunstlager im eigenen Schlafzimmer aufzubauen. Vielleicht hat Pizzabäcker Armagan Isbay eines der letzten Unbekannten Kunst-Objekte gefangen. Behutsam streicht er über jedes einzelne Bild als könne er noch gar nicht fassen, was da vom Himmel gefallen ist. “Gott hat mich erhört”, lacht er. “Gerade dachte ich: Wie schön es wäre, wenn ein bisschen Leben in diese tote Ecke käme! Und dann das!”