Lizenz zum Feiern

Die Stadt, die niemals schläft, war bis vor kurzem auch die Stadt, die niemals tanzt – zumindest nicht legal. Doch jetzt hat der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio ein Tanzverbot von 1926 gekippt. Die Nachtschwärmer nutzen ihren ersten Sommer der Freiheit.

veröffentlicht im Lufthansa Magazin, August 2018, print und online >>

„Hier können Eure wildesten Fantasien wahr werden.“ Der blauhaarige Mann schaut uns tief in die Augen, hinter ihm johlen ein Dutzend seiner Freunde, die sich mit uns in diesen bauwagengroßen Raum gequetscht haben. An den Wänden Kisten in penibler Ordnung: „langweiligste Höschen“, „hautfarbene BHs“, „dunkles Glitzerzeug“, „irisierende Sammlung“. Seine wildeste Fantasie heute Abend? Er zieht eine grüne Maske hervor: „Dinosaurierköpfige Tänzerinnen im Bikini! Ihr werdet schon sehen!“

Anya Sapozhnikova zieht uns weiter, weg vom Kostümfundus und tiefer ins House of Yes hinein. Gerade noch bliesen wir weiße Atemwolken in den Himmel, drinnen empfängt uns die schwüle Wärme, die entsteht, wenn 600 Menschen gleichzeitig tanzen. Sie kommt nicht weit: Jeder kennt die zierliche Brünette, jeder will sie umarmen. Der Club ist ihr Zuhause. Die 31-Jährige ist nicht nur Mitgründerin und -besitzerin, sie bucht auch Acts, schneidert Kostüme und tritt selbst als Luftakrobatin auf. „Wir wollten einen Ort schaffen, an dem alles möglich ist – so entstand der Name“, erzählt sie hinter den Kulissen, wo es ruhiger ist und man noch sehen kann, dass der Avantgarde-Tempel früher mal als Waschsalon diente. Das erste House of Yes brannte ab, aus dem zweiten mussten sie ausziehen, als der Besitzer die Miete verdoppelte. „New York ist ein verdammt hartes Pflaster, deshalb kam es uns ganz normal vor. Alles Großartige geht hier irgendwann kaputt.“ Sie nimmt einen tiefen Zug von ihrer Zigarette und stürzt sich zurück in die Menge.

Das House of Yes ist so frei, kreativ und sexy wie New York es gerne immer wäre. Wenn es dürfte. Doch ausgerechnet die Stadt, die niemals schläft, macht ihren Clubs und Bars mit komplizierten Lizenzverfahren und unkontrollierten Mieten das Leben schwer. Mehr als 80 mussten im letzten Jahrzehnt schließen, darunter lokale Institutionen wie das Grasslands, das Shea Stadium und zuletzt das Silent Barn. Die verheerensten Folgen hatte seit 1926 das so genannte Kabarettgesetz, das Tanzen nur mit einer Lizenz erlaubte, die nach der Erfahrung von Barbesitzern etwa 100.000 Dollar kostete. Das konnten sich nicht einmal 100 der über 22.000 Bars und Clubs der Stadt leisten, alle anderen gingen in den Untergrund.
„Wir haben mit allen Mitteln von uns abgelenkt“, sagt John Barclay. Er sitzt ein paar Straßen weiter in seinem Kellerbüro vor einer Palmentapete, während über ihm die Bässe seines Bossa Nova Civic Club wummern. Hin und wieder donnert eine U-Bahn dazwischen. „Auf unseren Flyern haben wir für Parties im ‚OMG Pizza‘ geworben.“ In dem heruntergekommenen Imbiss einen Block weiter will niemand wirklich feiern. Aber die Gäste verstanden den Code und die Tarnung hielt – bis vor wenigen Jahren.
„Es war gegen Mitternacht und wie immer laut und rappelvoll. So wie jetzt.“ Barclay schaut alle paar Sekunden auf die Videomonitore an der Wand, als befürchte er, dass es wieder passiert. „Ein Dutzend Beamte in Uniformen stürmten den Club, blendeten uns mit ihren Stirnlampen und befahlen, sofort das Licht an- und die Musik auszuschalten. Die Gäste erschraken, sie dachten an Terror und Bandenkriege.“ Barclay ahnte, mit wem er es zu tun hatte: Dies war die berüchtigte MARCH-Task Force, ein Zusammenschluss von Polizei, Feuerwehr, Gesundheits- und Baubehörde, die zusammen auf Streife gehen und zig Strafzettel auf einmal verteilen können. Und jetzt hatten sie 150 junge Menschen auf frischer Tat ertappt. Beim Tanzen.
„Das Berghain würde in New York nicht einen Tag geduldet.”
Vor Gericht zahlte Barclay mehrere Tausend Dollar Strafe und versuchte eine Weile, alles richtig zu machen. „Wenn Gäste sich rhythmisch bewegten, wies unsere Security sie zurecht. Der Club war tot. Selbst am Wochenende hing nur noch ein Dutzend Leute an der Bar herum. Wir machten keinen Umsatz mehr, 15 Jobs waren in Gefahr.“ Der Kalifornier sinkt ins Sofa zurück: “Es ist bis heute ein Alptraum, einen Club in New York zu führen. – Berlin dagegen!“ Er schaut mich an. „Berlin hat ein irres Nachtleben. Das Berghain würde hier nicht einen Tag geduldet.”
Das Kabarettgesetz entstand während der Prohibition im frühen 20. Jahrhundert, als in den USA kein Alkohol verkauft werden durfte. Die Stadt New York nutzte es aus, um alles Neue und Fremde unter Kontrolle zu bringen: Die Jazzclubs im Harlem der 1930er, in denen sich Schwarze und Weiße miteinander vergnügten. Die Schwulen und Lesben, die sich in den 1970ern politisch organisierten. Und in den 1990ern schlichtweg alle Clubs, die aus Sicht des damaligen republikanischen Bürgermeisters Rudy Giuliani die „Lebensqualität“ beeinträchtigten. Giuliani gründete die Task Force, die bis heute Streife fährt.
„Die MARCH-Kontrolleure gehen rassistisch vor“, sagt Barclay. „Die weißen Yuppie-Clubs in Williamsburg haben nichts zu befürchten. Im karibischen Crown Heights, in den Latino-Bars von Queens und im afroamerikanischen Harlem sind sie Stammgäste.“
Mister Mom und Ernie Washington – ein Jazzpionier geht undercover
„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ T.S. Monk stößt die Eisentür zum Minton’s auf und schaut sich in der Jazzbar um. Er ist drahtig, Ende sechzig und sieht auch mit Basecap und Karohemd elegant aus. Seine Hand streift die Schwarz-Weiß-Bilder an der Wand: „Dizzy, Charlie, Teddy, Billie, Miles. Als ich ein Kind war, gingen sie bei uns ein und aus.“ Vor dem Bild eines jungen Mannes, der sein Sohn sein könnte, bleibt er stehen: „Der Anzug ist super, oder? Hat meine Mutter genäht. Wir hatten kein Geld, aber mein Vater wusste, was gut ankommt.“
Thelonious Monk ist an jeder Wand des Minton’s verewigt. Hier erfand der mittlerweile verstorbene Pianist in den 1940er Jahren den Bebop, hier revolutionierte er mal eben die Jazzmusik. „Mit der Hintergrundmusik für weiße Intellektuelle hatte das damals nichts zu tun“, erinnert sich T.S. Monk. „Das war Musik für die Massen, hier wurde wild getanzt – wie zu Hiphop oder Beyoncé heute.“ Den Behörden war das ein Dorn im Auge. Sie nutzten das Kabarettgesetz, um berühmten Jazzmusikern ihre Auftrittserlaubnis zu entziehen. Als Thelonious Monk und ein Freund in eine Kontrolle gerieten, fanden Polizisten Drogen im Auto des Freundes. Sie konnten Monk nichts nachweisen, doch sie steckten ihn wochenlang ins Gefängnis und konfiszierten seine Kabarettkarte. „Mein Vater sagte oft: ‚Nach all dem müsste ich eigentlich selbst zum Rassisten werden. Aber immer wenn ich mich über ‚die‘ Weißen ärgere, kommt ein Weißer daher, mit dem ich mich gut verstehe.‘“
Monk trat undercover als „Ernie Washington“ auf, doch es war riskant und als No-Name-Pianist wurde er schlecht bezahlt. „Meine Mutter nahm einen zweiten Job an und mein Vater blieb bei uns Kindern zuhause – er war ‚Mister Mom‘, wie wir das in den USA nennen. Meine Eltern konnten kaum noch die Miete aufbringen, aber sie haben uns nichts merken lassen.“ T.S. Monk hörte erst mit 13 Jahren von dem Gesetz, aber die Politik dahinter leuchtete ihm nicht ein. „Mein Vater, ein Verbrecher? No way.“
Das Tanzverbot würde heute noch bestehen – hätte Giulianis Task Force nicht einen Fehler begangen: Sie legte sich mit Andrew Muchmore an. Wer den Anwalt im navyblauen Anzug und Seitenscheitel in seiner Kanzlei sitzen sieht, käme nie auf die Idee, einen Barbesitzer vor sich zu haben. Einen Mann, der tagsüber das Geld verdient, das er nachts verliert – mit seinem Traum einer Nachbarschaftskneipe im Stile seiner Heimat New Orleans. Als MARCH Muchmore einen Strafzettel für unerlaubtes Tanzen verpasste, fühlte sich der Anwalt bei seiner Ehre gepackt. Statt zu zahlen focht er die Entscheidung an.
„Ich konnte es gar nicht erwarten, den Polizisten, der mich vorgeladen hatte, ins Kreuzverhör zu nehmen“, sagt Muchmore genüßlich. „‚Was haben Sie genau gesehen?‘ wollte ich ihn fragen. ‚War es ein Schwingen, ein Wippen? Haben die Gäste Jitterbug getanzt oder doch eher Funky Chicken? Demonstrieren Sie mal, bitte!‘“ Doch dazu kam es nicht. Das Gericht ließ die Anzeige fallen – angeblich war der Eintrag über die Strafe verloren gegangen. Muchmore ließ es nicht darauf beruhen. 2014 führte er einen Prozess gegen die Stadt New York, weil das Kabarettgesetz gegen die Freiheit des Ausdrucks und damit gegen die US-Verfassung verstoße. Er gewann.
Zum ersten Mal in neunzig Jahren entstand der perfekte Sturm: Clubbesitzer John Barclay gründete mit Anya Sapozhnikova und Hunderten anderen Kreativen das Dance Liberation Network. Und ein junger Lokalpolitiker, der in den DIY-Clubs von Brooklyn zu Hause ist, brachte einen Entwurf zur Abschaffung des Kabarettgesetzes in den Stadtrat ein – den Text hatte Muchmore geschrieben. „Viele Kollegen im Stadtrat fanden, ich ginge zu weit“, erinnert sich Rafael Espinal. „Ich sagte ihnen: ‚Der Moment ist gekommen! Wir haben in den USA einen Präsidenten, der unsere Rechte und Freiheiten beschneiden will. Als Stadt können wir daran nichts ändern. Aber wir können unsere eigenen repressiven Gesetze abschaffen.‘“ Das saß. Im November 2017 kippte Bürgermeister Bill de Blasio das Gesetz. Und er setzte eine Nachtbürgermeisterin ein, die zwischen den Clubs, der Stadt und den Anwohnern vermitteln soll.
Die Toilettenschlange zieht sich quer durch den Raum, eine Dinosaurierdame massiert ihren Vordermann, die Wartenden lassen sich Cocktails reichen. Drinnen blinkt und funkelt es: Die Wände sind mit Pailetten, Spiegelmosaiken und Perlenketten beklebt, alles in Gold. Ein Mann, der kaum mehr als eine Federboa trägt, schminkt sich neben einem Einhorn und zwei Frauen mit Chrysanthemen im Haar. „Das waren die tropischsten Blumen, die wir finden konnten“, sagt Lisa Heike – auf Deutsch. Die Leipzigerin ist zum vierten „und nicht zum letzten“ Mal hier, sie studiert internationales Recht und wohnt nur ein paar Blöcke entfernt. „In Deutschland kenne ich keinen Club wie den hier.“ Ihre Freundin Sylwia Białek lacht: „In New York gibt es das auch kein zweites Mal!“
Die Elektrobeats in der Halle schlagen schneller und plötzlich sind sie überall, weit über uns im Scheinwerferlicht: die Akrobatinnen und Gogo-Tänzer, für die das House of Yes so berühmt ist. Sie winden sich in Gitterkäfigen, schwingen auf einer Schaukel über die Köpfe der Tanzenden hinweg und kriechen über ein Wandgerüst. Ein Gogo-Girl winkt kurz. Anya? Anya. Barfuß, im neongelb-getigerten Leotard mit pinkem Federschmuck steigt sie von der Decke, verklemmt die Füße im Gerüst und biegt sich nach hinten bis ihre Haare die Theke berühren.
Auf dem Heimweg denke ich daran, was Rafael Espinal gesagt hat: „Wenn das Nachtleben stirbt, verliert New York seine Seele. Wir verlieren sie bereits: Tolle Clubs schließen, Künstler und Musiker ziehen nach Pittsburgh und Detroit, weil sie sich New York nicht mehr leisten können. Uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Kurz vor der Morgendämmerung ist Midtown Manhattan grau und menschenleer. Die wenigen Menschen in der U-Bahn, späte Heimkehrer, frühe Pendler, sitzen in größtmöglichem Abstand voneinander und sind von oben bis unten vermummt – gegen Kälte, gegen Blicke. Nur zu meinen Füßen liegt eine Feder. In Pink.