Gerade noch standen hier Flohmarktverkäufer, die Kleidung aus siebter Hand verkauften und Antiquitäten, die in den anderen Bezirken niemand mehr haben will. Jetzt zieht die Dämmerung über den Trödelmarkt in Berlin-Neukölln. Ein rhythmisches Surren verwandelt das ehemalige Abrissgelände in einen surrealen Ort – man meint den Zahn der Zeit zu hören. Da bewegt es sich hinter den Marktständen: Hier lugt ein Auge hinter einem Fächer hervor, dort zündelt eine Kerze, und überall treten seltsame Gestalten wie Wettermännchen aus ihren Buden – Verkäufer nicht von Dingen, sondern von Liedern und Geschichten.
Neukölln wird zum Spielplatz für Künstler
Mitten in Berlin-Neukölln lässt der Vokalartist David Moss seine Oper “New Babel Sounds” beginnen. Der Kiez wird zum Klangkörper, die Bewohner zu Sängern, die Straße zur Inspirationsquelle. Und Inspiration gibt es hier genug: Neukölln ist ein Neu-Babel, wirtschaftlich einer der ärmsten, kulturell vielleicht der reichste Bezirk Berlins: Menschen aus 160 Ländern leben hier Tür an Tür. Neuköllns Puls rast; der Bezirk der Arbeitslosen und Ausgegrenzten entwickelt sich derzeit zum Spielplatz der Avantgarde. Dieser Puls durchzuckt auch die Oper “New Babel Sounds”, die am 17. April im Rahmen des Europäischen Festivals für anderes Musiktheater uraufgeführt wurde. Die Dreigroschenoper des 21. Jahrhunderts kokettiert mit Neuköllns morbidem Charme und den untrainierten Stimmen seiner Bewohner. Denn neben acht Profis aus der ganzen Welt treten auch 80 Laien aus Neukölln darin auf.
Manche Dinge brauchen Zeit
Ferhat Topal und Wolfgang Janzer tragen Bärte und Löwenmähnen in Schwarz und Weiß; in der Probenpause rauchen sie einträchtig im Operngarten; fast möchte man meinen, sie seien Vater und Sohn. Janzer leitet seit 15 Jahren ein offenes Jugendzentrum in Berlin-Neukölln, Topal arbeitet seit einem Jahr dort. Für eine ganze Generation kleiner Neuköllner ist der 24-Jährige der ideale große Bruder. Der noch Türkisch spricht wie sie und sich dennoch als Deutscher fühlt, der alles geschafft hat, was sie sich erträumen. Und doch: Im Chor will keiner von ihnen mitsingen. “Die türkischen und arabischen Migranten sind weitgehend ausgeschlossen vom Wandel, der gerade durch Neukölln geht.” Wolfgang Janzer zuckt die Achseln: “Sie schließen sich selbst aus, wissen nichts damit anzufangen. Es gibt Dinge, die brauchen viel Zeit.”
Dabei wäre dies ein guter Zeitpunkt: Spielerischer und grenzenloser als die “New Babel Sounds” kann menschliche Kommunikation kaum sein. Vom Innenhof der Neuköllner Oper aus schaut David Moss zu den 80 Neuköllnern empor, die sich hoch über ihm in die Fenster ringsum gestellt haben. Wie ein Zauberer lässt Moss seine weißen Handschuhe durch die Luft sausen, als wolle er höchstpersönlich an den Stimmbändern seiner Sänger ziehen. Sphärische Klänge erfüllen den ganzen Hof, disharmonisch erst, dann immer ähnlicher. Falsche Töne gibt es nicht bei David Moss – nur einigen muss sich die Gruppe, wie im wirklichen Leben.
Experimenteller Gesang
Moss kann viereinhalb Oktaven überbrücken und im Stakkato die absonderlichsten Laute hervorbringen. Hier schweigt er, in Neukölln sind die Laien die Stars. Der US-Performance-Künstler und Wahlberliner zieht seit zehn Jahren um die ganze Welt und gibt Workshops in experimentellem Gesang. Er träumt von einem rein intuitiven und fast mechanischen Gesang, frei von Ritualen und musikalischen Genres, der ein elementarer Ausdruck des Körpers und der Seele ist. Elaine Mitchener, Jazz-Sängerin aus London, ist begeistert von seiner Methode: “In Zeiten der TV-Casting-Shows sind die Menschen nur noch an perfektem Sologesang interessiert. Dabei geht es beim Singenlernen darum, den Körper zu spüren, den eigenen Laut zu genießen und die eigene Stimme kennenzulernen.”
Mit blau glitzerndem Lidschatten und pinkem Pulli steht Canan Caroline Tüzün zwischen den Beinen der Erwachsenen. Mit ihren sieben Jahren ist sie die Jüngste im Chor, aber sie will nicht länger warten: “Ich will Schauspielerin werden – und da muss ich doch singen können!” Antje Zelder-Tüzün lacht über ihre stürmische Tochter: “Ob Canan hier singen lernt, weiß ich nicht. In jedem Fall lernt sie Rücksicht zu nehmen und auf andere zu hören.”
Statistin wider Willen
So viel Einigkeit – ist das wirklich noch der Berliner Skandalbezirk? “RUUUHE!”, gellt es da von hinten. Die Ruferin balanciert ihren Dackel auf dem rechten Arm, links die Bierdose: “Mein Hund hat Tinnitus und muss operiert werden – und ihr macht hier ein Konzert!” David Moss grinst und macht unbeirrt weiter. Als Elaine Mitcheners Soulstimme den Hof einnimmt und der Chor hoch droben mit einem Stakkato antwortet, steht die Frau mit offenem Mund da. Den Hund hat sie vergessen. Diese Sprachlosigkeit – vielleicht ist es genau das, was dieser lärmende Bezirk braucht.