Mit 315 Stundenkilometern war „Haiyan“ ein Taifun der Superlative. Nie zuvor ist ein Sturm mit einer solchen Geschwindigkeit auf Land getroffen wie am 8. November 2013 auf die philippinischen Visayas-Inseln. Doch dieser Rekord könnte bald schon wieder gebrochen werden. Prognosen des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) zeigen, dass sich die Philippinen infolge des Klimawandels auf immer schwerere Stürme sowie heftigere und unregelmäßigere Niederschläge einstellen müssen. Ein Risiko ist auch der steigende Meeresspiegel, weil 60 Prozent aller Einwohner direkt an der Küste leben. Der Inselstaat am Äquator ist Naturereignissen so stark ausgesetzt wie kaum ein anderes Land weltweit; nur Vanuatu im Süd-Pazifik ist laut dem Weltrisikobericht 2014 noch stärker gefährdet.
Neben Taifunen sind die Philippinen auch Überschwemmungen, Dürren, Landrutschen, Erdbeben und Vulkanausbrüchen ausgesetzt. In diesem Jahr zogen schon sieben Wirbelstürme über das Land – und die Taifunsaison ist noch nicht vorüber. Zwischen 2006 und 2010 wurden laut der Tsunami-Datenbank der US-Wissenschaftsbehörde NOAA durchschnittlich mehr als vier Millionen Filipinos Opfer von Stürmen und Überschwemmungen. (Der Tsunami 2004 traf die Philippinen hingegen kaum, da Indonesien, Malaysia und Thailand die Auswirkungen des Seebebens im Indischen Ozean abfingen.)
Dahingegen war die zentrale Inselgruppe der Visayas lange Zeit von den schlimmsten Katastrophen verschont geblieben. Die aus dem Süden kommenden Taifuns trafen meist direkt auf die Nordinsel Luzon. Und auch vom Bürgerkrieg, der auf der südlichen Inselgruppe Mindanao tobte, war bei den Bauern und Fischern der zentralen Inseln nicht viel zu spüren. Aufmerksamkeit in den internationalen Medien erregten die Visayas allenfalls als Tauchparadies. Umso größer war die Überraschung – und umso schlechter die Vorbereitung, als Haiyan am 8. November 2013 auf die Visayas traf. Binnen weniger Stunden verwüstete der Wirbelsturm ganze Landstriche, tötete Tausende, vertrieb Millionen und stellte die bisherige Gesellschaftsordnung auf den Kopf.
Als die Vorfahren der Taifunopfer im 12. Jahrhundert dem Königreich Srivijaya dienten, erbten sie dessen Namen: „Visayas“, die „Siegreichen“ und „Hervorragenden“. Doch der Name erfüllte sich nicht – im Gegenteil: Die Inselbewoner wurden immer wieder unterworfen; Missionare zwangen ihnen erst den Islam, dann das Christentum auf. Von den natürlichen Reichtümern der Philippinen profitieren sie kaum; die Visayas gehörten schon vor dem Sturm zu den ärmsten Regionen des Landes.
Betrachtet man nur die Durchschnittswerte, haben es die Philippinen zu einem gewissen Wohlstand gebracht: Beim Index für menschliche Entwicklung (HDI) liegen sie im mittleren Spektrum (Rang 117 von 187), das Wirtschaftswachstum beträgt sieben Prozent und die durchschnittliche Lebenserwartung immerhin 69 Jahre. Doch die Reichtümer des Landes sind extrem ungleich verteilt: Den Villenvierteln von Manila stehen riesige Slums in gefährlichen Hanglagen und arme Bauerndörfer gegenüber. Weltweit gehören die Philippinen zu den Ländern, bei denen die Familieneinkommen besonders stark voneinander abweichen (Platz 42 von 141 auf dem GINI-Index); 40 Prozent der Filipinos müssen von weniger als einem Dollar am Tag leben.
Diese Ungleichheit hat „Haiyan“ noch verstärkt. Die Ärmsten haben Naturereignissen wenig entgegenzusetzen. Während der Sturm Häusern aus Beton nichts anhaben konnte, riss er die einfachen Hütten der Fischer und Bauern davon. Als wenige Monate nach Haiyan die Wirbelstürme Kajiki und Agaton über die Visayas hereinbrachen, wurden Zigtausende provisorische Unterkünfte zerstört und viele Menschen erneut in die Flucht getrieben.
Für Elisabeth Biber, Nothelferin der Welthungerhilfe, war schon vor einem Jahr abzusehen, dass sich die volle Wirkung des Taifuns erst Monate später zeigen würde: „wenn die Kokospalmen nicht tragen, die Ernte auf den versalzenen Feldern nicht aufgeht – und die meisten Organisationen wieder abgezogen sind.“ Über eine Million Bauernfamilien müssen ihre Felder neu anlegen, 20.000 Fischerfamilien neue Boote beschaffen. Naderev Saño, Klimakommissar der Philippinen, schätzt den Gesamtschaden für die philippinische Landwirtschaft auf 0,8 Milliarden Euro. Doch am schlimmsten hat es die vielen Landbewohner getroffen, die von der Kokosnussernte lebten: Der Sturm hat 33 Millionen Kokospalmen umgeknickt; bis sie wieder die ersten Nüsse tragen, werden fünf Jahre vergehen.
„Stürme wie Haiyan sind unsere neue Normalität“, sagt Panfilo Lacson, Wiederaufbauberater des Präsidenten Benigno Aquino. „Also müssen wir Gebäude errichten, die mit solchem Wetter klarkommen.“ Nach dem Prinzip des so genannten ‘Building Back Better’ werden Gebäude und Infrastruktur beim Wiederaufbau so robust konzipiert, dass sie der nächsten Katastrophe besser standhalten.
Ob dies funktionieren wird, ist schwer zu beurteilen, weil bisher kaum ein Gebäude steht: Von den 200.000 Häusern, die die Regierung den Flüchtlingen versprochen hatte, waren im Mai erst 130 fertiggestellt. Schuld daran sei die Bürokratie, schreibt der philippinische Politologe John Raymond Jison auf einem Wissenschaftsblog. Weil ein Bedarfsreport fehle, könne die Regierung auch ein Jahr nach der Katastrophe keinen Budgetplan erstellen. Somit seien zum Jahresende erst vier Prozent des milliardenschweren Hilfspakets aus Manila ausgegeben – während die Flüchtlinge weiter im Regen stehen.
Von den ursprünglich vier Millionen Flüchtlingen leben heute noch 200.000 in Übergangslagern, weil sie nicht auf ihr ursprüngliches Land zurückkönnen. Viele haben ihre Dokumente in den Fluten verloren und müssen sich erst neue Landtitel ausstellen lassen. Andere können ihre Grundstücksgrenzen nicht mehr erkennen und rechtfertigen, weil der Sturm jegliche Orientierungsmarken beseitigt hat. Wieder andere dürfen ihr Land nicht mehr bebauen, weil die Regierung strandnahe Gebiete für unbewohnbar erklärt.
Kritiker wie der asiatische Think Tanks Focus on the Global South befürchten, dass die Regierung das Vakuum als Vorwand nutzen könnte, um Bewohner zwangsumzusiedeln und große Bauvorhaben umzusetzen – eine Strategie, die die kanadische Globalisierungskritikerin Naomie Klein in ihrem Buch „The Shock Doctrine“ am Beispiel des Tsunamis in Südostasien beschreibt. Im schlimmsten Fall finden die Flüchtlinge nach ihrer Rückkehr Hotelanlagen statt ihrer Felder vor. Für den Wiederaufbau hat die Regierung der Philippinen zwar noch keinen Plan, aber bereits verschiedene Großkonzerne beauftragt.
Headerbild: Global Water Partnership/Ernie Penaredondo