Der italienische Fotograf Alessandro Brasile hat ForscherInnen der Nichtregierungsorganisation SOMO in die südindische Textilfabrik KPR Mills begleitet, die vom umstrittenen Sumangali-Vertragsprinzip Gebrauch macht. Auf ihrer Website preist die Firma die Zwangsarbeit von minderjährigen Mädchen wörtlich als „soziales Engagament“ an: „KPR rekrutiert Frauen aus abgelegenen Dörfern und bietet ihnen höchste Annehmlichkeiten neben Bildung, Freizeit, Ausbildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Wir sind stolz darauf sagen zu können, dass KPR einen lobenswerten Beitrag geleistet hat, der als einer der besten in der Geschäftswelt anerkannt ist.“
Brasile, der unter anderem als Werbe- und Theaterfotograf arbeitet, entlarvt diese Fassade. Dazu braucht er keine Skandalbilder, keinen Dreck, keine sichtbare Gewalt. Seine Bilder zeigen die architektonische Strenge der Fabrikunterkünfte, blitzblanke Fliesen, geordnete Reihen, adrette Uniformen. Doch wie beim Morgenappell gibt es in Brasiles Bildern immer eine zweite Ebene, die Zweifel sät und Unbehagen auslöst. Wenn drei Mädchen ihm die Tür zu einem sterilen Gruppenraum öffnen, dann wirkt diese Geste ängstlich, eingeübt, allzu demonstrativ.
Doch eines kann die Firma nicht kontrollieren und standardisieren: Die Mienen der Mädchen erzählen alles, was die CSR-Kulisse verbirgt. Mit leerem Blick, verlassen und traurig, verrichtet eine unbekannte Fabrikarbeiterin ihre Fron unter Neonröhren – doppelt gefangen in einer fensterlosen Halle inmitten eines umzäunten Fabrikgeländes. Im Speisesaal findet Brasile ein Mädchen vor einem halbleeren Reisteller. Endlose Nächte am Fließband haben ihrem Blick alles Kindliche genommen; anders als ihre Kolleginnen weicht sie der Kamera nicht aus, sondern wendet sich ihr zu, ohne Sympathie oder Zorn, aber wissend um die Dichotomie der Welt. Als ahne sie, dass die späteren Betrachter die Kleider tragen werden, für die sie kaum bezahlt wurde.