Juwel mit Kratzern

Mit einem solchen Bericht scheitert man an der Berliner Journalistenschule in der letzten Runde – Grundkurs in undiplomatischem Journalismus (Nachmachen nur auf eigene Verantwortung)

Kürzere Reisezeiten im Regional- und Fernverkehr, immer mehr und immer internationalere Fahrgäste: Die Bilanz der Deutschen Bahn ein halbes Jahr nach der Eröffnung des neuen Berliner Hauptbahnhofs ist durchweg positiv. „Durchweg positiv“ sind zumindest die Lieblingsworte von Burkard Ahlert, Bahn-Sprecher für die Länder Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Mit seinem weißen Seebärenbart und dem gemütlichen Bürobauch wirkt der gebürtige Hamburger wie ein moderner Matrose. Sein Element ist nicht das Wasser, sondern die Schiene. „Jeden Tag“ fahre er mit der Bahn, „nach Hamburglübeckfrankfurtmagdeb…“ – einen besseren Pressesprecher könnte sich Hartmut Mehdorn gar nicht wünschen. Einer, der nichts Schlechtes über das Großprojekt zu berichten weiß und einfach alles „toll“ findet: „Die ganze Atmosphäre – oben und unten Züge…“. Und während der Konzern schon ein „neues Eisenbahnzeitalter“ aufziehen sieht, fotografieren sich die Reisenden eifrig im neuen „Schloss“ der Deutschen Bahn: Vor den Ankunftstafeln, unter der Kuppel aus Tausenden Glasplatten und mit ironischem Fingerzeig vor der leeren Bahnhofsmission. Gabi Schütterle aus dem Siegerland und Heinrich Schneider aus Süddeutschland gehören zu diesen 300 Tausend bis 400 Tausend Vorzeigekunden. Sie waren auf einer Konferenz in Berlin und sind „restlos beeindruckt“ vom neuen Bahnhof: „Viel leiser als Frankfurt und sauberer als München.“
So utopisch sauber wie der Boden – um die Fleckentfernung und Müllbeseitigung kümmern sich Überwachungskameras und Putzkolonnen rund um die Uhr – sind auch die Menschen hier – und alle so geschäftig wie die durchfahrenden Züge. Bänke gibt es schließlich nur wenige und als sozialer Raum versteht sich der neue Hauptbahnhof nicht gerade: „Jeder, der bei uns verreisen oder einkaufen will, ist herzlich willkommen.“ Alle anderen – Verkäufer von Obdachlosenzeitungen, Musiker und Flaschensammler – müssen draußen bleiben. Ahlert verweist auf die Hausordnung: „Bettler hier zu dulden kann einfach nicht unsere Aufgabe sein.“ Zwar wird gerade ein kleiner Weihnachtsmarkt aufgebaut und ab und zu gibt es eine Modenshow, doch nur, wenn „der verkehrfreundliche Zustand dadurch nicht gefährdet wird“. „Menschenfreundlichkeit“, der Bahnhof als öffentlicher Raum – das war einmal.
1100 Züge verkehren hier täglich und schleusen 300 Tausend Reisende täglich durch und in die Stadt. Am Wochenende werden sogar 400 Tausend Besucher gezählt. Davon ist jedoch morgens um neun Uhr noch nicht viel zu sehen: Auf der unteren Ebene, wo der Regional- und Fernverkehr ankommt, ist vom ursprünglichen Konzept der Architektengruppe um Meinhard von Gerkan nicht mehr viel zu spüren. Dunkel und kühl ist es hier, Tageslicht dringt allenfalls durch kreuzförmige Lucken an den Deckenpfeilern. Nach Gerkans Plänen sollte sich hier eine lichte Gewölbedecke erheben, doch die nahende Fußballweltmeisterschaft ließ allenfalls Zeit für ein schlichtes Flachdach.
Die „Transparenz“ des Bahnhofs war die oberste Leitvorstellungen der Architektengruppe um Meinhard von Gerkan und im oberen Teil meisterhaft erreicht durch die Grundmaterialien Stahl (85 Kilometer Seil), Glas (9117 Scheiben) und Beton (500 Tausend Kubikmeter). Doch alles andere als transparent dagegen das Finanzierungskonzept: Die Summe von 700 Millionen Euro gehen schon lange durch die Medien, doch die Bahn AG will den Wert nicht bestätigen. Das gesamte Berliner Verkehrsentwicklung von 1990 bis 2010 kostet den Bund jedoch 10 Milliarden Euro.

In den nächsten Jahren sind zahlreiche Erweiterungen geplant: Unter anderem soll die Potsdamer Stadtbahn hinzukommen sowie die Dresdner Bahn, die das Zentrum mit dem neuen Schönefelder Flughafen verbinden soll, ein U-Bahntunnel zum Alexanderplatz und eine weitere Stadtbahnstrecke. Doch Burkart Ahlert gibt sich gewohnt optimistisch und ist um sprichwörtliche Vergleiche nicht verlegen: „Auch Rom ist nicht in drei Tagen gebaut worden.“
Der Service wird dagegen keineswegs ausgeweitet. Die Berlinerin Margarete Jentsch steht neben ihrem Reisetrolley und wartet auf einen ICE nach Basel. Die 67-jährige vermisst Bänke und die Toiletten liegen ihr zu weit auseinander. Außerdem bemängelt sie, dass der Bahnhof „in der Wüste“ liege. Der „Washingtonplatz“ wird seinem Namensgeber nicht gerecht: Er ist eine überdimensionierte kahle Betonfläche, die zur Spree hin abfällt; auf dem „Europaplatz“ im Norden bahnen sich schwer bepackte Reisende durch Taxireihen und Autokorsos ehe sie zu einer unscheinbaren Bushaltestelle kommen. Doch mit der unmittelbaren Nachbarschaft des Bahnhofs, so betont Sprecher, hat die Deutsche Bahn AG nichts zu tun: Das ist Sache der Stadt Berlin. Ebenso wenig wie mit dem Amokläufer, der den Menschenauflauf zur Eröffnung am 28. Mai nutzte, um Besucher zu attackieren. „Das war jenseits des Bahnhofs und damit außerhalb unserer Verantwortung.“
Er ist der „größter Kreuzungsbahnhof Europas“, das „Eingangstor zur Weltstadt“, ja gar „das Symbol für die Einigung einer ehemals geteilten Stadt“ – an Titulierungen für das Berliner Spitzenprojekt mangelt es nicht. Doch die Berliner haben Mehdorns liebstes Kind noch nicht adoptiert: Sonst so findig in der Namensgebung, haben sie ihm noch keinen Spitznamen verliehen.