Da vorne steht ‘ne Ampel

Jongleure aus aller Welt verdienen ihr Geld an Berliner Straßenkreuzungen und vervollkommnen ihre Talente quasi nebenbei

veröffentlicht in der taz vom 29. Juli 2009 >>

Die Ampel an der Berliner Siegessäule springt auf Rot. Das ist das Zeichen für Agnieszka Kwiatkowska und Joanna Sakowicz: Lächelnd laufen sie vor die wartenden Autos, schwingen ihre Melonenhüte zum Gruß und drehen sich in ihren fantastischen Trachten, die an ungarische Puszta und arabische Mittelmeerhäfen zugleich erinnern. Vor ihnen in der Sonne dampfen die Autos, während die Polinnen ihre Volkstanzparodie mit kitschiger Emphase vollführen.

Eins, zwei, drei Keulen im schrillen Orangeton von Verkehrshütchen fliegen durch die Luft; während Sakowicz jongliert, schleicht Kwiatkowska um ihre Partnerin herum und stibitzt eine Keule aus der Luft. Eine Ampelphase lang wird die Straße zur Bühne und die Berufspendler werden zu ihrem Publikum.

“Wir verlassen das Haus in aller Frühe, um morgens und abends die Pendler abzufangen”, sagt Kwiatkowska und umklammert hektisch ihre schmalen Schultern, als riefen die Keulen nach ihr, oder ein anderes Projekt. Denn davon hat die 28-Jährige genug: Vor einem Jahr nach Berlin gekommen, arbeitet sie im Rahmen des Europäischen Freiwilligendienstes im Zirkus Cabuwazi. Das Ampelgeld spart sie für ihre Ausbildung an der renommierten Brüsseler Schule für Zirkuspädagogik, die im Herbst beginnt.

In ihrer Heimat Polen gehören die beiden jungen Artisten schon zur alten Garde der Zirkuskünstler: Denn mit der Mauer zerbrach auch die Warschauer Zirkusschule Julinek, in der das sozialistische Polen sein Ideal von klassischer Schönheit und virtuoser Choreografie verbreitete. In diese Lücke stieß vor zehn Jahren eine junge Artistengeneration, darunter Kwiatkowska und Sakowicz, die in ihrer Heimatstadt Torun eine internationale Jonglier-Convention starteten. Reisen durch Westeuropa inspirierten sie zu einer anderen Zirkusästhetik, in die sich wilde, theatrale Elemente mischten: Die Punks drängten die Primaballerinen aus der Manege.

Ein Dutzend Ampeln entfernt, am U-Bahnhof Hallesches Tor, gibt Josma in schwarzer Hose und rotem Shirt den coolen Clown; erhobenen Hauptes und Hutes schlängelt er sich nach seiner Performance durch die Wagenreihen, ohne zu insistieren: “Was mir der Eine nicht gibt, gibt mir der Nächste.” Nur bei privaten Sicherheitsdiensten hält er gehörigen Abstand: “Die zeigen mir regelmäßig ihre Pistole.”

In Spanien sei er oft wie ein Bettler behandelt worden, erinnert sich der 36-jährige Katalane, der seinen vollen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Überhaupt: Barcelona! Gerade habe die Stadt eine amtliche Prüfung für Straßenkünstler eingeführt und den Absolventen Metallplatten in der Fußgängerzone zugewiesen. “Da kann ich auch gleich ins Büro gehen.” Josma schüttelt den Kopf über so viel Ignoranz. “Das zerstört die Philosophie der Straßenkunst, die doch intervenieren und überraschen will.”

Josma jongliert mit Sprachen und Berufen wie mit Keulen und Instrumenten: Wenn er nicht wie in den letzten zehn Sommern irgendwo in Europa an einer Ampel steht, arbeitet er als Pizzaverkäufer, Musiker oder zuletzt in einem Berliner Kinderladen. “Für 400 Euro monatlich, da verdiene ich auf der Straße mehr.”

Runde 12 Euro sind es pro Stunde, manchmal ist mehr drin: An einer Ampel in Rom vermittelte ihm eine Schauspielerin eine Statistenrolle in einer Serie, in Berlin entleerte eine Roma-Familie ihr Portemonnaie in seinen Hut.

Während Kwiatkowska davon träumt, polnischen Kindern auf dem Land durch Zirkuskunst mehr Selbstvertrauen zu vermitteln, möchte Josma in Berlin bald seine eigene “Marching Band” gründen: “mit Jongleuren, Saxofonisten und allem Pipapo.” Zwar fühlt sich Josma im Exil, während Kwiatkowska in Gedanken immer schon auf dem Rückweg nach Polen ist, doch eines haben beide gemeinsam: Sie sind moderne Wilhelm Meister in einem europäischen Bildungsroman.

Für beide ist die Ampel mehr als nur eine Einnahmequelle: Sie ist Experimentierfeld für schwierige Übungen, öffentliches Trainingslager für die eigene Kunst. Einmal liegen am Ende der Impro-Kür von Kwiatkowska und Sakowicz alle Keulen am Boden – da verzichten sie einfach auf den Gang durch die Reihen.

Für eine Sekunde wirkt es so, als blecke der graue Audi den Kühlergrill, als zwinkere der blaue VW ihnen zu. Dann wird die Ampel grün.

(Dieser Reportage liegt ein kleiner, persönlicher Rechercherekord zugrunde: Gerade einmal 20 Stunden hatte ich von einer vagen Idee zur fertigen Story. Auf dem Weg dahin lagen: 10 Dutzend Ampeln, 50 Radkilometer auf einer Gurke kreuz und quer durch Berlin, drei Stunden Schlaf und unzählige Tassen Kaffee.)