“Histórias mínimas” – Ein Sonntag im Parque Lezama

Rundmail aus Buenos Aires, auf die ich überraschend 20 ausführliche Antworten bekommen habe – besser als 100 “Likes” 😉

Am Eingang des Parks begruesst uns eine doppelte Statue: Vor das riesisge Standbild einer nackten Indígena hat man das Ehrenmal irgendeiner argentinischen Ikone in Uniform gesetzt, das die grosse Frau im Hintergrund dennoch nicht ganz verdecken kann. Ein wohl eher ungewolltes Pas de Deux zweier argentinischen Kulturen, wie sie im Parque Lezama ueberall zu sehen sind.
Dieser dunkelgruene Dschungel, der so unerwartet zwischen den Gassen auftaucht, trennt zwei Barrios, die sich nie unaehnlicher sind als an so einem Sonntag wie heute: Wenn das bescheidene San Telmo zum Touristenvergnuegungspark wird, der durchreisenden Alltagsfluechtlingen die gewuenschte Portion Exotik haeppchenweise und auf Englisch serviert bis sie in einen Einkaufsrausch verfallen und Kunst und Kommerz verschwimmen. Wie bei der jungen US-Amerikanerin im Gedraenge vor mir, die gerade eine Begruendung gefunden hat, um sich den dritten Schal zu kaufen: “First I always think, ’40 $, quite expensive!’ until I realize ‘My God, it’s 10 Dollars, that´s nothing!'”
Der Parque Lezama bildet eine unsichtbare Grenze, die kein Gringo (Fremder) anders ueberschreitet als im Linienbus, der ihn direkt an ein buntes Gaesschen mit Postkartenfassade bringt bringt, wo er sich einen Eindruck davon zu machen, wie “malerisch” doch die Armut und wie “lebensfroh” die Leute sein muessen, fuer die 40 $ nicht “nothing” sondern das Wochenziel sind. Die Rede ist von La Boca, beruehmt fuer den “Lateinamerikanischen Traum” eines armen Strassenjungen namens Diego Maradona, der aus dem Hinterhof den Rasen von Boca-Juniors und die Buehne der Welt betrat. Beruechtigt aber eben auch fuer seine Ueberfaelle, Strassenschlachten, seinen agressiven Machismo, die extreme Armut und die geringe Lebenserwartung, die den Rio Riachuelo hinunter bis vor die Ruinen der stillgelegten BASF-Fabrik auf 30 Jahre abfaellt…
Zwischen diesen beiden Welten also der Parque Lezama, der Grenzgaenger – Literaten, Hippies, Musiker – aus aller Welt anzieht, aber auch Bankiers aus dem Centro und junge Familien aus La Boca. Eine eigentuemliche Mischung, die hier fuer einige Stunden ein gemeinsames Glueck findet. Meine Schuhe in der Hand spaziere ich barfuss an Flohmarktstaenden und unter Palmen an dieser Strandpromenade ohne Meer, schlage einen Fussball zurueck, den die zukuenftigen Diego Maradonnas auf den Kopf eines ahnungslosen Opas zuspielen. Hier strecken sich argentinische Grossfamilien auf dem Rasen aus, um noch brauner und noch entspannter zu werden. Ein kleines Maedchen mit dem runden Gesicht der Indígenas, das sicher erst in diesem Sommer laufen gelernt hat, hat sich das weisse Hemd seines Vaters um die Schultern gehaengt und rennt so schleierumweht wieder und wieder den Sonnenhuegel hinunter, ihre Schritte taenzelnd im Rythmus der Bongotrommeln, die mal von den Bueschen, mal aus unbekannter Richtung hinunterwehen, ein unsichtbarer Pulsschlag des Parks.
Ueberraschender Auftritt der Boca-Juniors: Die Fútbol-Kids halten andaechtig inne, als die muskuloesen Maenner vom nahen Stadion vorbeijoggen, immer schneller werden je steiler der Weg ansteigt und das Tam-Tam der Bongos noch antreiben.
So schnell, wie sie aufgetaucht sind, sind die Goetter in Blau-Gelb wieder verschwunden; die kleinen Porteños nehmen ihr Spiel wieder auf, wohl etwas fieberhafter als zuvor, der Geschaeftsmann neben mir knuepft sein Hemd wieder zu und steckt den Liebesroman in die (Akten-)Tasche, und das Teenager- paerchen verschwindet laechelnd gen Westen, zusammen mit der Sonne, die ein letztes Mal die silbernen Matekessel aufblitzen laesst bevor sie den Park fuer wenige Stunden dem Mond, den streunenden Hunden und anderen Gestalten von La Boca ueberlaesst.