Anfang 2015 zog Kainats Familie gemeinsam mit ihrem Onkel Ashraf aus der Stadt in ein Paschtunen-Dorf südlich von Kabul, um auf die Kinder ihrer gerade verstorbenen Tante aufzupassen. Als sie dort ankamen, waren sie überrascht, Männer mit langen Bärten zu sehen und Frauen – wenn überhaupt – in Burkas verhüllt. Gab es das noch, nach dem Ende der Taliban-Herrschaft?
Wie viele Stadtbewohner trugen Kainat und ihre Brüder mittlerweile Jeans, T-Shirts und Lederjacken. „Wir brauchten eine Weile, ehe wir verstanden, dass die Taliban sich in dieses Dorf zurückgezogen hatten und sich Kämpfe mit der Regierung lieferten“, erzählt Kainats Bruder Aziz, 17. Im selben Moment bereuten sie gekommen zu sein.
Die Extremisten verboten Kainat, auf die Straße oder gar zur Schule zu gehen. „Sie blieb allein zu Hause und weinte viel“, sagt Mutter Farida, die um so mehr redet je mehr Kainat schweigt. „Ich will nicht, dass es ihr so ergeht wie mir.“ Immer wieder betont sie, wie wichtig Bildung ihr ist – auch oder gerade weil sie selbst die Schule beenden musste, als sie mit 16 Jahren ihr erstes Kind bekam.
„Die Situation zwischen uns – den Fremden – und den Taliban war sehr gespannt“, erzählt Aziz. „Sie versuchten uns in ihren Krieg hineinzuziehen und ich hasste sie immer mehr dafür.“ Sie wollten ihn und seine Brüder vom Schulbesuch abhalten und stattdessen zur Koranschule schicken, doch die Jungs weigerten sich. Dann wollten sie die Familie dazu bringen, Waffen zu verstecken – sie redeten sich heraus. Als schließlich ein alter Mann vor der Tür stand und die 14-jährige Kainat heiraten wollte, reichte es ihnen: Sie packten ihre Sachen und fuhren zurück.
Kurz nach der Abreise standen die Taliban wieder vor der Tür ihres verwitweten Onkels. Er wäre gerne mitgekommen, doch als Bauer konnte er seine großen Ländereien nicht aufgeben. Als er ihnen nicht sagen wollte, wo sie waren, verprügelten sie ihn. Diese Fremden seien bestimmt Regierungsspione, sagten sie. Sie würden sie um jeden Preis zu finden.
Als sie dies hörten, verkauften Kainats Eltern, ihr Onkel Ashraf und ihre Tante Spogmai ihr gemeinsames Bekleidungsgeschäft und ihre Wohnungen zu einem Spottpreis; für Verhandlungen war keine Zeit. Einen Monat lang dauerte ihre Flucht: zu Fuß über den Hindukusch und weiter bis zum Balkan, wo sie sich den anderen Flüchtlingen anschlossen.
Mitten in der Nacht, mitten auf der Ägäis zwischen der Türkei und Griechenland, setzte der Motor ihres Schlauchboots aus. 44 Menschen auf offener See, in Panik. Als die Flut kam, wurde das Boot hin- und hergeworfen und die Wellen schwappten ins Boot. Mit ihren Schuhen schöpften sie das Wasser hinaus, doch der Pegel stieg. Aziz und seine Geschwister sahen sich an und warfen ihren letzten Besitz über Bord, den Laptop mit allen Erinnerungen.
Ein Flüchtling an Bord hatte die Nummer der griechischen Küstenwache, ein anderer hatte Netzempfang und Aziz, ja, Aziz sprach gut genug Englisch, um die Griechen von ihrer Not zu überzeugen. Er schickte den Offizieren einen Screenshot mit GPS-Koordinaten und zehn Minuten später war das Rettungsschiff da. „Erst wollten sie uns zurück in die Türkei bringen“, erinnert sich Aziz. „Doch als sie die vielen kleinen Kinder sahen, ließen sie uns nach Europa einreisen.“
„An einem durchschnittlichen Tag in unserer Stadt in Afghanistan hätte es heute morgen eine Explosion am Flughafen gegeben und später noch einen Selbstmordangriff. Hier dagegen…“ Farida lacht. „Es ist so still hier! Wir gehen zum Fußballfeld quer durchs Dorf und fürchten uns kein bisschen.“
Sie alle lachen viel und gern, ihre Erleichterung ist spürbar. Und sie haben große Pläne: Farida möchte einen Beauty-Salon eröffnen. In Afghanistan kamen viele Frauen zu ihr, um sich die Augenbrauen zupfen zu lassen. Dafür braucht sie nur Garn und eine ruhige Hand.
Aziz möchte Medizin studieren, um Zahnarzt zu werden. Doch fast wäre es schon am ersten Schritt gescheitert: Weil für 17-Jährige in Deutschland keine Schulpflicht mehr besteht, haben sie auch keinen Anspruch auf einen Schulplatz. Aziz fand nur eine Weiterbildungseinrichtung, die ihn aufnahm. Doch als die Lehrer ihn erlebten – diesen freundlichen und gewissenhaften jungen Mann, der auf Englisch über Politik diskutieren und schnell mal ein paar Fotos in Photoshop bearbeiten kann –, setzten sie sich für ihn ein. Jetzt besucht Aziz ein Lippstädter Gymnasium und bereitet sich auf sein Abitur vor.
Dabei steht nicht einmal fest, ob die Familie bleiben kann. Präsident Aschraf Ghani appellierte an die Bundesregierung, die Flüchtlinge zurückzuschicken; Afghanistan sei sicher und man brauche sie zum Wiederaufbau. Die deutsche Regierung gab seiner Bitte nach: Derzeit erhält nicht einmal die Hälfte aller ankommenden Afghanen Asyl. Immer wenn Syrer Aziz fragen, warum er denn bitte sehr fliehe, wo der Krieg in Afghanistan doch vorbei sei, sagt Aziz nicht viel. Würden sie es verstehen? Und müssen sie ihre Schicksale wirklich miteinander vergleichen?
* Aus Sicherheitsgründen verzichten wir auf die Nachnamen.
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