Das Buch ist ein Weckruf für Medienmacher und Öffentlichkeit. Auslandsreporter nehmen Kosten, Mühe und Gefahren auf sich. Doch oft geht irgendwo zwischen der erlebten und der gedruckten Geschichte Wahrheit verloren, schleichen sich Plattitüden und Missverständnisse ein, werden die Rechte von Protagonisten beschnitten und die Leser um ihren Erkenntnisgewinn gebracht.
Woran aber krankt der Auslandsjournalismus? Wiedemann, die selbst als Hauptstadtredakteurin gearbeitet hat und zeitweise in Berlin lebt, kritisiert die Macht der “gatekeeper” in den Redaktionen, “die den Brandgeruch schon in der Nase haben”, wenn noch Versöhnung möglich ist. Aus Zynismus, Abgeklärtheit und Selbstüberschätzung, die durch die Kungelei in der Hauptstadt und den privilegierten Zugang zu Gesprächspartnern und Informationen entstehe, erwarteten sie von Korrespondenten nur Stereotype zu verfestigen. Hunger in Afrika. Fanatismus im Iran. Die edlen Wilden. “Wir schützen uns vor zu viel Erkenntnis”, schreibt Wiedemann. An ihren eigenen Erfahrungen macht sie deutlich, welche Missverständnisse sich zudem bei der Recherche einschleichen können. So hielt sie etwa die inszenierte Propagandaveranstaltung eines kamerunischen Sultans für ein traditionelles Ritual. Solcherlei Zugeständnisse finden sich zuhauf; sie machen das Buch sympathisch und die durchaus berechtigte Kollegenschelte annehmbar.
Ihr Bericht macht nachdenklich angesichts der Tendenz in der Medienbranche, nach der Hintergrundwissen und Erfahrung als kontraproduktiv gelten. Dementsprechend werden Journalisten zwischen den Ressorts verschoben, als Auslandsreporter nach drei Jahren versetzt oder als “Fallschirmreporter” mal hierhin, mal dorthin abbeordert – je nachdem, wo es gerade brennt. Während des Arabischen Frühlings reiste plötzlich jeder Reporter, der etwas auf sich hielt, nach Kairo und wurde mir nichts, dir nichts zum Spezialisten. Der “frische Blick” eines Fachfremden gilt in vielen Redaktionen als produktiv; einem Berliner Redakteur müsse es demnach besser gelingen die Revolutionen in Nordafrika auf das angebliche Niveau der Leser “herunterzubrechen” als einem studierten Arabisten. Für literarische Texte wie Glossen und Kolumnen mag das gelten, aber nicht für komplexe Recherchen und Analysen. In seinem Gedicht “An das Publikum” ereiferte sich Kurt Tucholsky schon in den Zwanziger Jahren über die Boulevardisierung, die von einem desinteressierten Leser ausgeht: “Jeder Direktor mit dickem Popo | spricht: ‘Das Publikum will es so!'”
Charlotte Wiedemann plädiert für einen Journalismus des Respekts, sowohl vor dem Publikum als auch vor den Protagonisten. Doch die 59-Jährige ist eine Ausnahmeerscheinung – eine freie Journalistin, die sich spezialisiert hat und von den Honoraren namhafter Medien leben kann. Für viele junge Journalistinnen und Journalisten können ihre ethischen Erwägungen frustrierend sein, wenn sie täglich erfahren, dass die wenigsten Redaktionen Reisekosten zahlen und wenige Freie ohne Brotjobs überleben können. Doch es kann ihnen auch dabei helfen, die Auswirkungen der Rationalisierung zu begreifen und für angemessenere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. “Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben” ist nicht nur ein Buch für Journalisten, sondern für alle, die verstehen wollen, wie Auslandsberichterstattung ihr Weltbild prägt und welche menschlichen Irrtümer und institutionellen Scheren zwischen die Wirklichkeit vor Ort und sie selbst treten.
Charlotte Wiedemann: Vom Versuch, nicht weiß zu schreiben. Oder: Wie Journalismus unser Weltbild prägt. PapyRossa, Köln 2012, 186 Seiten, 12,90 Euro.
Headerfoto: Fotografen während der Unruhen in Bangkok 2010, CC K.rol2007/ flickr.com