Ausbruch auf Zeit

Mit 30 Gefangenen der JVA Tegel macht der Regisseur Peter Atanassow Theater hinter Gittern. Er projiziert den historischen Hannibal-Stoff auf das 20. Jahrhundert – und lässt den Gefängnishof erzittern

veröffentlicht in der taz vom 11. Juni 2009 >>

Wie ein Panzer aus Menschenleibern schiebt sich eine Armee in grünen Ponchos über den Freistundenhof der Justizvollzugsanstalt Tegel. „Wir kommen vielleicht nie heraus aus diesem Kessel“, brüllt die Stimme eines Kommandanten. Ein Lachen dröhnt von fern aus dem Dunkel der vergitterten Fenster und selbst die Raben auf den Dächern krächzen höhnisch. Denn da spricht nicht nur der Kommandant aus Heiner Müllers Drama „Wolokolamsker Chaussee“ (1984-86), sondern auch der Schauspieler selbst, Insasse der größten europäischen Haftanstalt für Männer. Heute Abend öffnen sich ein Dutzend Gefängnistore zu einer ungewöhnlichen Premiere: Mit 30 Gefangenen der JVA hat das Kunstprojekt „aufBruch“ eine Stückcollage in elf Bildern nach Heiner Müller und Bertolt Brecht („Hannibal“, 1922) inszeniert.

Beide Dramen verleiben sich den historischen Hannibal-Stoff ein und projizieren ihn auf die Konflikte des 20. Jahrhunderts. So zieht Heiner Müller eine Parallele zwischen dem Untergang Karthagos 220 v.C. und dem Zerfall des Ostblocks 2000 Jahre später. Regisseur Peter Atanassow ergänzt den Stoff in seiner Collage um eine dritte Geschichtsebene: Er vergleicht die maschinengleiche Armee Karthagos, die die Identität und die Moralvorstellungen des Einzelnen außer Gefecht setzte, mit der Wehrmacht.

Die Häftlinge in der Rolle der kämpferischen Karthager reproduzieren das Bild, das das Publikum von ihnen hat, und konfrontieren es mit seinen Vorurteilen. Alpay Alvaz Paco gibt den Hannibal lauernd und sprungbereit; selbst das unter einer Piratenklappe verborgene Auge scheint alles zu sehen. Wie eine Naturgewalt steht der 34-Jährige mit zwei Sätzen auf dem Dach des Alpengerüsts; das diplomatischen Geplänkel mit dem römischen Diktator kann jederzeit zum Donner werden. Kaum zu glauben, dass der gebürtige Berliner nie zuvor Theater gespielt hat.

In nur sieben Probenwochen haben die Männer aus acht Ländern das sperrige Stück gestemmt. „Biografie füllt Text“ – diesen Gedanken Heiner Müllers findet Regisseur Atanassow bei den Proben bestätigt: „Technik lässt sich erlernen, Lebenserfahrung nicht.“ Auch deshalb macht ihm die Arbeit mit den Häftlingen solchen Spaß. Mit schwarzem Basecap, grüner Jacke und Berliner Dialekt gibt sich der gebürtige Dresdner alle Mühe aufzutreten wie seine „Jungs“. Die danken es ihm mit Respekt. Acht Stücke hat der 41-Jährige seit 2002 mit dem Theater-Projekt „aufBruch“ in der JVA Tegel inszeniert, zuletzt den Spartakus. Hinter den Mauern des Vollzugs findet Atanassow seine künstlerische Freiheit, die Häftlinge einen Ausbruch auf Zeit.

Bei einer Probe am Montag zuckt hier und da ein Darsteller vor seinem Monolog zusammen und vergewissert sich mit einem schnellen Blick der Solidarität seiner Mitspieler. „Theaterspielen gilt bei vielen Knackis als schwul“, sagt Volker Ullmann im Karthagerkostüm. „Das müssen wir erst einmal aus unseren Köpfen kriegen.“ “Was, dass Homosexualität etwas Schlechtes sei?” “Nein, dass Theaterspielen etwas damit zu tun hat.” Weiter gehen sie nicht, nicht hier in der JVA.

In der Gruppe fühlen sie sich stark: „Für Freiheit, gegen Willkür“, tönt es vom goldenen Podest der Römer. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“, schallt als Echo vom Alpengerüst der Karthager zurück. Der Kampf der Ideologien ist nicht mehr aufzuhalten, denn „für alle reicht es nicht“. Die sozialistische Utopie Karthagos zerschellt in der Kakophonie des Krieges: Metall trifft auf Metall, Stiefel auf Gittergerüste, Befehle auf Gehorsam. Unter Choralgesang ziehen sich die Römer die weiße Toga über den Kopf und marschieren als Ku-Klux-Klan mit erhobenen Kreuzen gegen die archaischen Belagerer.

Im Blick der Überwachungskameras zeigt Atanassow Theater im Theater

In Brecht’scher Tradition legen die Darsteller am Ende ihre Rolle ab wie ein Fußballspieler sein Trikot. Da stehen sie in Unterhemden, Paco, Ullmann und die anderen, Waschbrettbäuche neben schlohweißem Haar, und rufen dem Publikum zu: „Deine Maske ist mein Gesicht.“ Hinter dem Sicherheitszaun, im Blick der Überwachungskameras zeigt Atanassow Theater im Theater: Denn nichts anderes ist jedes Gefängnis, inszeniert es doch permanent den Unterschied zwischen „uns hier draußen“ und „denen da drinnen“. Regisseur Atanassowklingt wie Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“ (1975), wenn er über seine Berufung spricht: „Mich reizt es, diese Grenzen durchlässig zu machen und die Gesellschaft an die ‘anderen Orte’ zurückzuholen.“ Doch ganz durchlässig werden die Grenzen nie: Schon die Premierenfeier mussten Zuschauer und Publikum gestern Abend ohne die Darsteller feiern: Wie jeden Abend schlossen sich die Zellentüren hinter ihnen um 22 Uhr.

Headerbild: Thomas Aurin

(Vgl. ähnliches Theaterprojekt in Italien >>)