Echo eines Pyrenäenabenteuers

geschrieben im Zug von Queralbs nach Barcelona nach meiner ersten selbst verantworteten Mini-”Bergtour” auf dem Gran Recorrido in den Pyrenäen 2006

Als hätten wir uns am Mate verschluckt, so sind alle Sinne überreizt solange wir stehen. Die Stufe ist ein Abgrund und sträubt sich gegen unsere Füße und noch kurz vor der Küste blinzeln wir in den hellen Bürgersteig mit dem gleichen Gedanken: Schnee! Nicht dieser erste Schnee des Lebens, der so zaghaft knirscht, wenn man nachts darüber läuft auf dem einsamen Göttinger Stadtwall. Das waren auch wir, aber das scheint weit weg, weiter fast als Barcelona, die jetzt über unseren Köpfen zur Stadt wird. Schnee ist jetzt das Geräusch des Fallschachts, zu dem er werden kann, wenn man mitten in einem Gebirge, von dessen Felsspalten man weder Kenntnis noch Warnung hat, unerwartet mit dem ganzen Körper bis zum Bauchnabel im Weiß versinkt und bei jeder Bewegung tiefer sackt ohne Grund unter den Füßen zu spüren. Dann fiebert das Adrenalin nicht mehr dem (vielleicht doch nicht so) unerreichbaren Puigmal entgegen, sondern jedem nächsten Schritt. Und im letzten Moment ahne ich, wo die Offenheit und Wärme der Núrianer begraben liegt: Buchstäblich in diesem Schnee, aus dem ich mich gerade mit Not und Glück befreien konnte. Die meisten haben eine Ahnung davon, dass keine Cremallera, keine staatliche Förderung und nicht einmal San Gil und die Virgen de Núria gegen die Launen dieser Gipfelkette und die Unerfahrenheit von Besuchern wie uns etwas ausrichten können.
Als wir auf dem ersten Gipfel ankommen, verschwinden ein Dutzend Geweihe hinter noch mehr Marmorbrocken, Felsen und Schnee. Es weht ein scharfer Wind über die Kuppe dieses Berges, den die Lugareños einfach nur „Hortensienhügelchen“ taufen. Hügelchen! Pah! Aber besser als Ameisenhügelchen – hormigas statt hortigas – wie ich erst verstanden habe. Der Wind lupft eine dichte Wolke in die Höhe, so dass binnen Sekunden der Blick auf einen der größten Gipfel hier frei wird. Und wir kalte Füße bekommen, da sie uns eindeutig signalisiert, dass sie als nächstes unser Riesenhügelchen zudecken will. Ohne Raquetas (Schneeschuhe) geht es abwärts, ein Apfel zeigt uns im Davonhüpfen den schnellsten Weg, doch wir folgen ihm aus guten Gründen nicht. Nachts in der Hütte bilden sich Rinnsäle unter der Heizung mit unseren Hosen, an denen der Schnee bis zum Hintern klebt. Doch davon kriegen wir nichts mehr mit.
Es liegt eine unheimliche Stille über dem Tal, in dem jeder Blick, der über die sonnendurchtränkten weißen Berge streift, unweigerlich auf das trutzige Gebäude zurückfällt, das zusammen mit dem künstlichen Stausee fast den gesamten Boden des engen Tals einnimmt. Hier ist diese unglückliche Mischung aus Ski- und Wallfahrtsort zu spüren. In den Seitenflügeln der Kapelle sind auch mehrere Andenkenläden, ein Dreisternehotel und ein Skiverleih untergebracht; schließlich ist diese Dornröschenkaserne neben der Herberge und dem Hundestall das einzige Gebäude von Núria.
Täglich zwischen 9 und 17 Uhr fährt die Gondel ihre leeren Plastikstühle den Berg hinauf, überall beflimmern Flachbildschirme verwaiste Gänge, die Touristeninformanten zeigen uns ihr schönstes Achselzucken und die Kellnerin telefoniert noch beim Servieren aus dem Tal heraus. Dutzende Angestellte und eine Handvoll Touristen schieben hier Schnee oder eine ruhige Kugel, doch kein Lachen entschwebt dem Bann dieses seltsamen spanischen (¿español, de verdad?!) Ortes. Die Stimmung lastet drückender als der Nebel. Kein Plan und keine Information führte uns hierher, sondern eine Intuition, die sich aus dem geheimnisvollen Namen ergab. Das Geheimnis kann ich noch immer nicht benennen, doch vielleicht ist es das seltsame Gefühl noch niemals dort gewesen zu sein.

Headerfoto: ein paar Jahre späte in den Pyrenäen aufgenommen (Monte Perdido, “etwas” schwieriger als die Tour nach Núria)