Die Luft über Marseille flimmert; im Alten Hafen bilden Hunderte weiße Segelboote eine schwimmende Stadt; Touristen in bunten Shorts, Afrikaner in Boubou- und Maghrebiner in Dschubbe-Gewändern flanieren vorüber. Festivalgäste tragen ihre Akkreditierungskarten wie eine Auszeichnung und rücken die Sonnenbrillen zurecht. In diesem Defilee des Sehen-und-Gesehen-Werdens wirkt Olivier Dury unscheinbar und einsilbig: Er trägt Jeans und T-Shirt, wirkt müde und vermeidet jede allgemeinere Äußerung zu den großen Themen seines Films: Migration und Armut. Als er zwei Tage nach dem Interview den Ersten Preis des Festivals gewinnt, spricht echte Überraschung aus seinem Blick.
Herr Dury, warum haben Sie die afrikanische Migration nach Europa zum Thema Ihres Films gemacht?
Während einer privaten Niger-Reise im Jahr 1998 bin ich mitten in der Nacht einem Fahrzeug mit illegalen Migranten begegnet. Ich war gerade am Einschlafen, als ich mich plötzlich Seite an Seite mit ihnen fand und wir uns anstarrten. Das war ein überwältigender Anblick. Sie waren wahrscheinlich genau so überrascht wie ich, dort einen Weißen ganz alleine zu sehen. Dieses Bild hat mich nach der Reise nie wieder losgelassen, so dass ich beschloss, einen Film daraus zu machen.
Wie haben Sie die Migranten denn gefunden und den Kontakt zu ihnen hergestellt?
Insgesamt bin ich etwa fünf Mal in den Niger gereist, um diesen Film zu drehen. Zu dieser Zeit hatte sich die Situation in Agadez verschärft und die Fahrten fanden zunehmend heimlich statt. Oft fuhr der Tross nachts los, so dass niemand etwas davon mitbekam. Die Chefs der Schleusergruppen in Agadez und Arlit wollen jedes öffentliche Interesse vermeiden. Ich bin ihnen daher aus dem Weg gegangen und habe außerhalb der Stadt auf den Migranten-Tross gewartet. Das war nur dank der Tuareg-Chauffeure möglich, die einverstanden waren, dass ich ihrem Wagen folgte.
Sie benutzen Untertitel, um dem Zuschauer eine Ahnung zu geben, worüber sich die Migranten in verschiedenen Sprachen unterhalten. Beherrschen Sie selbst die afrikanischen Sprachen, derer sie sich zum Teil bedienen?
Nein, während der Dreharbeiten habe ich selbst nur einen Teil ihrer Unterhaltungen verstanden. Mich haben sie immer auf Französisch angesprochen; untereinander aber sprachen die Migranten ein unglaubliches Gemisch aus Französisch, Englisch, Haussa und anderen indigenen Sprachen. Sie haben sich nach ihrer Herkunft gruppiert; ich habe sogar Raufereien zwischen französischsprachigen und englischsprachigen Migranten erlebt. Angesichts der Reisebedingungen ist das jedoch kein Wunder: Es ist ja nicht gerade leicht, mit demjenigen Freundschaft zu schließen, der einem auf den Füßen steht. Um einen Eindruck von ihren Unterhaltungen zu vermitteln, habe ich anschließend in Paris einen afrikanischen Übersetzer hinzugezogen.
Sie filmen zum Teil von der Ladefläche aus, man sieht die Enge und die schlechten Straßen. Hinzu kamen kalte Wüstennächte und Sandstürme. Wie laufen Dreharbeiten unter derartigen Bedingungen ab?
Das kann tatsächlich ein bisschen schwierig werden. Während des Sandsturms habe ich die Kamera gar nicht erst aus dem Wagen geholt, um kein Risiko einzugehen. Nachts, wenn die Temperaturen schnell unter fünf Grad fallen können, habe ich manchmal ein bisschen gefroren. Aber ich war viel besser dran als die »Reisenden«, denn im Gegensatz zu ihnen hatte ich einen Schlafsack. Einige hatten eine Decke, andere aber absolut gar nichts.
Ihre filmische Reise endet an der libyschen Grenze. Warum haben Sie die Migranten nicht noch weiter begleitet?
Ich habe mir gesagt, dass die komplette Reise sehr kompliziert werden könnte. Ich hätte eine Genehmigung gebraucht, um in Algerien zu filmen, wenn ich nicht auch illegal einreisen wollte wie sie. Außerdem musste die ganze Strecke nachts und ohne Scheinwerferlicht zurückgelegt werden und da hätte es sowieso nichts zu filmen gegeben. Dass ich etwas früher aufhöre, ändert aber nicht viel an meiner Geschichte.
Ihre Kamera klebt geradezu an den Migranten; sie lächeln ihr entgegen und sprechen manchmal ein paar Worte Französisch. Wie war Ihre Beziehung zu den ihnen? Woher kam dieses Vertrauen, das man im Film zu sehen meint?
Es ist schwierig, so allgemein von »der« Beziehung zu sprechen, denn auf den Wagen waren ja viele Individuen: So bin ich mit einigen Leuten von Anfang an gut ausgekommen und mit anderen gar nicht. Anfangs habe ich mir viel Zeit genommen, um ihnen zu erklären, was ich vorhatte; schließlich ist es ja immer etwas seltsam, so einen kleinen Weißen mit einer Kamera zu sehen. Ich glaube aber nicht, dass es möglich ist, eine wirkliche Beziehung mit so vielen Personen in so kurzer Zeit aufzubauen. Es handelte sich eher um gegenseitigen Respekt.
Gegen Ende der Dreharbeiten hat ein unvorhergesehenes Ereignis unsere Beziehung jedoch verbessert: Da die Migranten sich so schlecht ernähren, bekam einer schlimme Bauchschmerzen, und ich habe ihm ein bisschen geholfen. Von einem Moment auf den anderen fanden mich sicher alle viel sympathischer als vorher. Leider waren die Dreharbeiten da schon vorbei.
Inwiefern beeinflusst die Anwesenheit der Kamera die Atmosphäre einer solchen Reise?
Beim ersten Mal habe ich mir auch Sorgen darüber gemacht, dass ich einfach so mit meiner Kamera auftauche. Zu meiner großen Überraschung hat sie den Kontakt aber eher erleichtert: Abgesehen von einigen Migranten, die sich auf keinen Fall filmen lassen wollten, gab es viele, die spontan zu mir gekommen sind, um mir ihre Geschichte zu erzählen. Ich glaube, sie waren froh, dass sich jemand für sie interessierte.
Polizeisirenen stören das Interview immer wieder. Während Mirages und Bab Sebta über die Leinwände der Festivaltheater laufen, spielt sich unten am Hafen die letzte Szene der »Reise ohne Ankunft« ab, an die diese Filme erinnern: Beamte in Uniform lassen Sarkozys »Hochdruckreiniger« walten; immer wieder führen sie Ausweiskontrollen bei arabisch oder afrikanisch aussehenden Passanten durch. Ihre Gesichter ähneln denen, die im Großformat von den Festival-Leinwänden herunterschauen. Hier wie in den anderen Mittelmeerstädten nimmt die europäische »Fata Morgana« für sie die Gestalt einer Festung an.
Herr Dury, die Gesichter der Migranten sind in Ihrem Film gut zu erkennen; einige halten sogar ihre Mailadressen ins Bild. Dieses Verhalten gegenüber der Kamera überrascht mich; man hätte ja auch glauben können, als zukünftige »illegale« Europäer hätten sie Angst, später wiedererkannt zu werden.
Ich glaube, sie haben wichtigere Probleme. Außerdem sind sie zu Beginn ihrer Reise noch gar nicht »illegal« und wissen noch nicht mal, was das wirklich bedeutet. In Agadez sind sie in ganz normalen Verkehrsmitteln angekommen. Dort kaufen sie dann ein Ticket, auf dem zwar ein Abfahrts-, aber kein Ankunftsort steht. Die Wüstendurchquerung ist die erste wirklich heikle Etappe, während der jeder einzelne auch eine Vorahnung davon entwickelt, was das Leben als »Illegaler« für ihn bedeuten wird. Nur einige wenige wissen bereits Bescheid: Ich habe dort einen Ghanaer kennen gelernt, der schon zum dritten Mal die Wüste durchquerte. Einmal hatte er es bereits bis nach Frankreich geschafft, doch er war ausgewiesen worden. Dreieinhalb Jahre war er schon unterwegs.
Haben Sie als Regisseur die Migranten denn nicht gewarnt?
Ich habe versucht, ihnen zu erklären, dass ich diesen Film vor Publikum zeigen möchte. Falls er zum Zeitpunkt ihrer Ankunft in einem Kino in Italien oder Frankreich läuft, werden sich einige vielleicht sagen: Ich verdecke lieber mein Gesicht, damit ich nicht erkannt werde. Aber ich kann mir kaum vorstellen, dass unsere liebe Regierung meinen Film anschaut, um die Migranten zu identifizieren.
Sie haben das Leben im Niger ebenso wie die Strapazen der Migration kennen gelernt. Warum, glauben Sie, versuchen diese Menschen nach Europa zu kommen?
Weil ihr Leben aus unterschiedlichen Gründen einfach unerträglich, unhaltbar, unmöglich ist. Weil der Mensch zumindest essen muss. Sie haben völlig andere Probleme als wir, als die Farbe des neuen Autos, usw. Die Migration wird immer weitergehen, so lange diese Menschen nichts haben.
Olivier Dury ist 1967 in Paris geboren. Als Absolvent der kanadischen Vancouver Film School hat er verschiedene Berufe im Filmgeschäft ausgeübt und arbeitet heute als Filmemacher und Regisseur.
Photos: 1: O. Dury, 2,3: “Mirages”