Die Früchte des Zorns

Bewerbungsportrait für die Evangelische Journalistenschule Berlin, September 2008, auf der Basis eines Radio-Features für Radio Grenouille Marseille, Juli 2008

In einem anderen Leben wäre er vielleicht Jurist geworden. So wie der Anzugträger, der gerade mit abgewandtem Gesicht an seinem Lager vorbeigeht. Aber diese Welt meint es nicht gut mit ihm. Wenzel tritt ihr eine leere Bierdose entgegen, dass es scheppert. Kläffend erwacht Göbbels. „Putain, hierher, Göbbels!“ Vorbeilaufende deutsche Touristen mustern den jungen Mann in Schottenrock und Lederjacke mit irritierten Blicken: Hier die Antifa-Aufnäher und dort die Hündin mit dem Namen des Nazi-Propagandaministers, wie passt das zusammen?
Seit Benjamin Schröer* „Wenzel“ heißt und auf der Straße lebt, umgibt ihn eine Aura der Provokation, die den Zwanzigjährigen schon unzählige Male ins Gefängnis brachte und von einer Stadt in die andere, von einem Land ins nächste trieb – bis er vor einem halben Jahr in Marseille gestrandet ist. „Ich bin im Exil“, sagt Wenzel trotzig. In Deutschland strafverfolgt „wegen einer kleinen Schlägerei“, dort Vater eines Sohnes, den er noch nie gesehen hat, und täglich auf fünf Flaschen Wein angewiesen, „um nicht zu kotzen und zu zittern“ – wer mit dem jungen Mann spricht, spürt bald, welch kafkaeskes Netz aus Flucht, Geldnot, Abhängigkeit und zerbrochenen Beziehungen sich über dessen Existenz ausbreitet.
„C’est pas l’homme qui prend la rue, c’est la rue qui prend l’homme,“ brummt sein Sitznachbar, ein vierzigjähriger Greis mit Vollbart und wässrigen Augen, nach einem französischen Schlager: „Nicht der Mensch wählt die Straße, die Straße holt sich den Menschen.“ Wenzel nickt. Seine Stimme, die so viele Parolen skandiert hat, klingt plötzlich brüchig. Mit 14 Jahren habe er gesehen, wie sein Stiefvater seine kleine Schwester missbrauchte. Er hat den Stiefvater verprügelt, rasend vor Zorn und Ohnmacht. Vor Gericht blieb das Kleinkind stumm; Ben verbrachte anderthalb Jahre im Jugendarrest und wurde von seinen Eltern vor die Tür gesetzt.
Fast hätte ihn der Glaube an Gerechtigkeit ganz verlassen, hätte er nicht in der Punkszene eine neue Familie und eine selbstbewusste Rhetorik gefunden: „Besser drei Jahre Abenteuer als 30 Jahre lang am Leben zu erfrieren. Wir liegen alle in der Gosse – und voller Sterne ist die Welt.“ Die Punkband Früchte des Zorns leiht ihm die Worte, die ihm selbst fehlen. Und die Früchte seines Zorns? Wenzel lässt sich im Meer der Passanten treiben, zwischen Galgenhumor und Sehnsucht, Endzeit- und Aufbruchstimmung. Mit einer Angel in der Hand und einem leeren Geldbeutel am Haken, sitzt er tagein tagaus am Hafen und wartet auf „Moby Dick“, das große Glück oder den dicken Geldschein, der ihn weiterreisen ließe: „Nach Barcelona, mal ein Haus besetzen.“

* Name geändert