Brave New www.orld – eine utopische Reportage

Diese fiktive Reportage entstand als Bewerbungsaufgabe für die 1. Europäischen Jugendmedientage (EYMD) 2007 in Brüssel. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder toten Personen ist rein zufällig und kann nicht ernst genommen werden >>

Brüssel. In der „Wartelounge“ des Brüsseler Verkehrshafen geht es an diesem Abend zu wie in einem Bienenstock: Gut hundert Journalisten aus ganz Europa lehnen über ihren Pentops und arbeiten an ihrer Berichterstattung über die gerade zuende gegangenen Jugendmedientage 2057, die anlässlich des 100. Jubiläums der Römischen Verträge statt fanden.
Inmitten der geschäftigen Journalisten fällt eine Mittsiebzigerin auf, die es als einzige nicht eilig zu haben scheint und sich mit ihrem anachronistisch wirkenden Notizblock mal hierhin, mal dorthin setzt: Es ist die Medienhistorikerin C.F., die als Jungjournalistin vor 50 Jahren die ersten Europäischen Medientagen miterleben durfte und nun beobachtend Bilanz zieht über ein halbes Jahrhundert europäische Mediengeschichte:
Auf einer Lounge-Bank am Rand sitzen vier Journalisten, die sich von anderen Events kennen und hier eines der vielen informellen „On the road“-Redaktionsbüros bilden:
Lars gehörte lange Zeit dem Brüsseler Korrespondentennetzwerk an, das vor Jahrzehnten in einer zentralen unabhängigen ‚Nachrichtenagentur für Europa’ aufgegangen ist. Statt einen Tag später in der schwedischen Presse zu erscheinen, werden seine Meldungen jetzt fast simultan in die 24 EU-Sprachen übersetzt und als ‚Content-On-Demand’-Lösung an Medien weltweit angeboten.
So wird man den Kommentar über die Abschlussrede des EU-Präsidenten, den er gerade verfasst, schon Minuten später im Newsticker über der Reportage der neben ihm sitzenden Mei-Wu lesen können. Im politischen Exil hat die Asiatin das Internet als Medium zur politischen Meinungsbildung entdeckt und ein Magazin des politischen Widerstands gegründet, das über einen versteckten Server allein in ihrem Land millionenfach gelesen wird. Mit einem kompletten digitalen Studio im Handgebäck ist sie Kamerafrau, Moderatorin, Cutterin, Redakteurin und Lektorin in einem. Noch bevor ihre Nachbarn ihr ‚Multimediamonster’ zur Bedeutung der Pressefreiheit gesehen haben, stehen die ersten Lesermeinungen dazu im Netz.
Über den politischen Einfluss von Medien könnte auch Aischa-Marie ein Liedchen singen, doch sie schreibt lieber einen Hintergrundbericht für ‚Le Monde’ und einen für den türkischen ‚Hürriyet’. Noch vor der Aufnahme der Türkei in die EU hat sie als freelance eine enge Kooperation beider Leitmedien bis auf die Ebene der journalistischen Ausbildung initiiert und damit maßgeblich zu einer interessierten und differenzierten medialen Diskussion in beiden Ländern beigetragen. Nach dem Vorbild der ‚Großen’ vermittelt sie inzwischen Partnerschaften zwischen französischen und türkischen Lokalzeitungen, die ihre Themen durch einen Blickwinkel vom anderen Ende Europas auflockern und schreibend ein Europa der Regionen errichten. Am anderen Ende der Patchworkredaktion sitzt eine Patchworkfamilie: Die Journalismuspädagogen Ana und Emanuel entwickeln zusammen mit zehn jungen Spaniern und zehn Migrantenkindern das integrative E-Zine ‚Laplumaparatod@s’, das früh die kommunikativen Fähigkeiten der Jugendlichen fördert und die Migranten mit der spanischen Sprache vertraut macht. Nicht alle jungen Autoren von ‚Lapluma’ werden Journalisten, aber mit Sicherheit werden sie selbstbewusste Europäer, pfiffige Schreiber und kritische Leser, die sich im Mediendschungel des 21. Jahrhunderts orientieren können.
Kaum einer der Beiträge über den EYMD, die über den Wireless-LAN diesen Raum verlassen, geht auf einen einzigen Journalisten zurück. Auch hier gilt das Prinzip ‚Attribution and Credit’: Neben dem Agenturmaterial greifen sie auch gern auf das ‚Copyleft’-Material zu, das die Nachwuchsjournalisten des EYMD produziert und ins Intranet der Veranstaltung eingespeist haben. Durch die ein oder andere Publikation und Nennung verbessert ein angehender Journalist seine ‚Visitenkarte’ im ‚Second Life’, die bei jeder Bewerbung eine Rolle spielt.
Für die Online-Redakteure in der ‚Wartelounge’ gibt es keinen endgültigen Redaktionsschluss und der Arbeitstag ist auch im Transrapid oder im Biojet noch nicht gelaufen. Auf dem Rückweg nach Berlin wird Mei-Wu wenig später letzte Korrekturen vornehmen und noch ein weiteres Interview als Sounddatei aufbereiten, nachdem die Zugriffsstatistik ein solch großes Interesse an den Delegierten-Interviews anzeigt. Dabei denkt sie an den herzlichen Abschied von ihren europäischen Kollegen Lars, Aischa-Marie, Ana und Emanuel und lächelt. Gerade wenn das Berufliche in Zeiten des Online-Journalismus so weit ins Private vordringt, sind persönliche Gespräche und Kontakte durch nichts zu ersetzen.
Während sich die Ergebnisse dieser Denkfabrik auf Reisekoffern in alle Himmelsrichtungen und alle virtuellen und medialen Kanäle verbreitet, bleibt vor Ort nur ein Notizblock zurück, den die Medienhistorikerin C.F. hier vergessen hat. Mit krakeliger Handschrift steht darauf:

„Medienlandschaft 2057: Diversifizierung und Beschleunigung, neue mehrmediale Präsentationsformen bei klassisch-investigativer Recherche, transnationale Kooperation bei gleichzeitiger Dezentralisierung, Ende der journalistischen Deutungshoheit und Demokratisierung des Schreibprozesses, Konkurrenzdruck und journalistisches Unternehmertum bei gleichzeitigem ‚esprit de corps’ und korporativer Autorschaft, klassische journalistische Fähigkeiten wie die kritische Recherche und Auswahl gehen an den mündigen Leser über. EYMD 2057: Wie immer viel Spaß und tiefe Einblicke.“