“Wir wollen kein Asyl, sondern Arbeit” – Junge Albaner in Diestedde

Marjeta und ihre Freunde sind keine Flüchtlinge – und haben dennoch Asyl beantragt, weil sie keinen Visumsantrag stellen können. Sie stammen aus einem so genannten “sicheren Herkunftsland”, Albanien, und können jederzeit abgeschoben werden. Um ihre Familie von Krankenhausschulden zu befreien, wollen sie in Deutschland Geld verdienen. Jobzusagen haben sie schon, doch die Arbeitserlaubnis steht noch aus.

Teil der Fotoausstellung “…und plötzlich diese Stille”, ab 20. April 2016 im Rathaus Wadersloh >>

Marjeta und Alim, Orest und Emanuela haben keinen Krieg erlebt, keine Vertreibung und keine Flucht übers Mittelmeer. Sie sind keine Flüchtlinge, das sagen sie selbst. Und doch haben sie einen Asylantrag gestellt.

So absurd es klingt, sie haben zunächst einmal keine andere Chance. Ein Job in Deutschland, so glauben sie, könnte ihre Familien aus der Armut befreien und ihre Krankenhausschulden bezahlen. Doch für die EU gibt es kein allgemeines Visumsverfahren wie etwa für die USA oder Kanada. Ohne ein konkretes Arbeitsplatzangebot können sie nur über einen Asylantrag einreisen.

Was sie erzählen, hält keinem Vergleich mit der Lebensgefahr stand, aus der die meisten Syrer, Iraker und Afghanen geflohen sind. Doch solche Vergleiche sind unfair, denn sie führen dazu, dass wir die stillen Tragödien überhören.

Marjeta spricht fließend Englisch und ein bisschen Spanisch, doch sie hat ihr Land noch nie verlassen. Sie hat Psychologie studiert – bis ihr Vater mit Herzproblemen ins Krankenhaus kam. Um das Leben ihres Vaters zu retten, mussten Marjeta und ihr Bruder Orest tief in die Tasche greifen: Sie zahlten drei Schluckecho-Untersuchungen à 800 Euro, mehrere Operationen, kauften drei Monate lang Medikamente aus der Apotheke und steckten den Krankenschwestern Scheine zu – das übliche Prozedere in einem Land, das keine Krankenversicherung kennt.

Doch ihre Taschen waren nicht tief: Sie mussten sich 4.000 Euro von Verwandten und Freunden leihen. Als Marjetas Uni sie zur Zahlung der Studiengebühren aufforderte – 1.000 Euro für ihr letztes Jahr bis zum Master – hatte sie kein Geld mehr. Sie exmatrikulierte sich und nahm einen Vollzeitjob als Kassiererin an, für 170 Euro monatlich. „Immerhin mehr als meine Mutter mit dem Verkauf von Bananen auf der Straße verdient“, sagt Marjeta halb im Scherz. Als schließlich auch ihr Großvater wegen Sauerstoffmangel ins Krankenhaus musste, beschlossen die Geschwister aus dem Teufelskreis auszubrechen. Die Bilder der Flüchtlingsprozessionen auf dem Balkan, die sie im Fernsehen sahen, waren wie eine Einladung: Auch sie würden nach Deutschland gehen.

Nach dem Kollaps des kommunistischen Hoxha-Regimes und der darauffolgenden Wirtschaftskrise lebt heute mehr als die Hälfte aller Albaner im Ausland; ihre Rücküberweisungen machen ein Fünftel des Bruttosozialprodukts aus. Orests Freunde leben in England, den Niederlanden, der Schweiz und Deutschland; ein Teil seiner Familie ist nach Griechenland ausgewandert. Er selbst war 17 Jahre alt, als er zum ersten Mal versuchte in eines der reichen europäischen Länder zu kommen. In einem italienischen Hafen ging er als blinder Passagier auf einem Containerschiff an Deck, zwei Tage lang versteckte er sich ohne Essen und Trinken in einem Container, bis ihn die Polizei aufspürte und zurückschickte.

Flüchtlinge09

Die spanischen Telenovelas und Hollywood-Filme, die sie in Tirana im Fernsehen sahen, wirkten wie Hohn auf Marjeta und Orest – und doch schalteten sie immer wieder ein. Sie zeigten eine Welt, in der junge Menschen arbeiten und mit ihrem Partner zusammenziehen können. Eine ruhige Umgebung, um eine Familie zu gründen und ihre Verwandten in Albanien zu unterstützen – mehr wollen die vier nicht vom Leben. Marjeta mag Schloss Crassenstein und die gelben Blätter der Bäume im Herbst, ihr Freund hat sein Fußballtraining. Diestedde wäre perfekt.

„Wir sind schon 13 Jahre zusammen“, sagt Marjeta und lächelt Alim zu, der im Türrahmen lehnt. „Aber hier in Deutschland wohnen wir zum ersten Mal zusammen: erst auf Luftmatratzen in einer Turnhalle und dann in einem Zimmer zu viert.“ Mittlerweile haben sie ein eigenes Zimmer, in das gerade eben ein Bett passt, die Küche teilen sie sich mit Georgiern und Syrern.

„BITTE ZAUBA“, hat Orest mit Kreide mahnend an die Wand geschrieben – und noch einmal auf Arabisch: نظيف . Die Übersetzung hat er von Google Translate. Er sieht sich als inoffizieller Hausmeister, kann gar nicht darauf warten endlich Verantwortung zu übernehmen, zu arbeiten. Orest ist rastlos. Er hat bereits einen Vertrag als Metallarbeiter bei einer Wadersloher Firma unterschrieben, doch um dort anfangen zu können, braucht er erst eine Genehmigung des Warendorfer Sozialamts. Und die lässt auf sich warten.

Marjeta ist im fünften Monat schwanger; in Diestedde sah sie zum ersten Mal ihre Zukunft klar vor Augen. Doch der Asylantrag des Paares ist gerade abgelehnt worden. Albanien zählt zur Gruppe der „sicheren Herkunftsstaaten“; wenn nun auch ihr Widerspruch abgelehnt wird, können sie jederzeit abgeschoben werden. „Sie haben Recht“, sagt Marjeta. „Albanien ist zu sicher zum Sterben, aber es ist auch zu arm zum Leben.“

 

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