Kolkata bei Nacht – selbst von hier oben lassen sich die bunten Lichterbögen erkennen, und anders als bei der Ankunft vor zwei Wochen weiß ich jetzt: es ist ihre Festbeleuchtung für diese Monate der Ernte, der Ferien, der Picknicke und Vernügungen. Lichtergewitter auf Bambusgerüsten, gerade noch bin ich mit dem Taxi darunter durchgefahren. Doch nur wenige Fugzeugfensterzentimeter weiter ist Kolkata erschreckend dunkel; winzige Lichter deuten an, wie weit sich die Stadt streckt. Dazwischen immer wieder schwarze Löcher. In einem dieser lichtlosen Löcher wohnt Rupa, zu der ich gestern über Astbrücken balanciert bin. Wie oft wohl ist sie dort gestürzt, hat ihr einziges Sari aus Entengrütze und Schlamm befreit? Wie oft hatten sie kein Licht, kein fließend Wasser – geschweige denn Toilettenpapier? Wie oft wollte sie davonrennen ans andere Ende der Welt wie gestern, als sie sich mir – der erstbesten Fremden – als Haushälterin anbot?
Diese zwei Wochen Indien fühlten sich an wie drei Monate; so viele Fremde wurden zu Freunden, für Sekunden auf Tagesdecken beim Tee oder für Tage auf Holperstraßen. Norwegen verlassen hieß den Vorhang hinter einem Traumreich zu schließen, das sich immer wieder öffnen lässt. Ein letztes Mal durch Kolkatas Straßen zu fahren stimmt mich melancholisch auf eine andere Weise. Weil ich heute Abend schon im Flugzeug sitze und sie ohne Licht im Slum. Weil meine Freiheit ihre Unfreiheit ist und kaum jemand von den Gesichtern der Nacht – das geisterhafte Kind zwischen den Autos im Stau, die Männer mit dem Müllkarren, die Unbekanten in den heruntergekommenen Wohnungen – heute Nacht so gut schlafen, so gut essen werden wie ich. Zwei Wochen lang bin ich durch ihren Matsch gewatet, über ihre Astbrücken balanciert und habe in ihrem Staub gesessen – ihre Fotos nehme ich mit, sie selbst lasse ich zurück.