Vom Rolli zum Renault – Fahrausbildung mit Handicap

entstanden als Bewerbungsreportage für einen Volontariatsplatz bei der ‘Deutschen Welle’

Ein ruhiger Freitagmorgen in der Universitätsstadt Göttingen: Der Berufsverkehr ist gerade abgeebbt und die ersten Studenten radeln durch die Altstadt – einige betrunken auf dem Rückweg von der Party, andere schlaftrunken auf dem Weg zur Uni. Stefan sitzt hellwach und konzentriert am Steuer eines dunklen Renault. Plötzlich kreuzt direkt vor ihm ein junger Mann die Straße. Stefan zieht die Bremse. Erschrocken blicken sie sich an. Der Radfahrer, kaum älter als Stefan, nickt ihm dankbar zu. Ein Aufatmen geht durch das Fahrschulauto, in dem der Achtzehnjährige gerade seine Führerscheinprüfung ablegt. – Ein Glückstag, dieser Freitag der Dreizehnte!
Eine Stunde später hat Stefan seinen Führerschein mit Bravour bestanden. Stefan, der vor drei Wochen zum ersten Mal am Steuer saß. Der vor gut einem Jahr noch nicht damit rechnete, einmal wieder aufrecht sitzen zu können.
Sein Unglückstag war der 16. Juli 2005. Er wird sich sein Leben lang an diesen Sommertag im Ungarnurlaub erinnern, der so schön begann und so schrecklich endete: Wie er die Treppe zum See hinunterrannte, wie er ausrutschte und sich überschlug. Der ehemalige Fußballer, Leichtathlet, Skater, Schwimmer und Radfahrer ist seitdem querschnittsgelähmt.
In der Fahrschule von Udo W. haben seit 1997 über 50 Körperbehinderte aus ganz Deutschland ihren Führerschein gemacht. „Mit den entsprechenden Einbauten kann prinzipiell jeder Autofahren lernen, der nicht blind oder geistig behindert ist“, weiß Wichmann aus eigener Erfahrung. „Häufig sind körperbehinderte Fahrschüler sogar viel motivierter als nichtbehinderte, denn für sie spielt Mobilität eine ganz andere Rolle.“
Für seinen Schüler Stefan zum Beispiel: Er wohnt in einem 500-Seelen-Dorf im ehemaligen Zonenrandgebiet zwischen Göttingen und dem Harz. Für einen jungen Körperbehinderten wird das ländliche Idyll schnell zum „Ende der Welt“: Der einzige Bus nach Göttingen und ins Umland ist nicht rollstuhlgerecht und Stefan ist für jeden Weg auf die Mutter oder den Krankentransport angewiesen. „Das kann ganz schön nerven!“ Nach allem, was der junge Mann vor zwei Jahren aufgeben musste, wollte er sich die Aussicht auf den Führerschein nicht nehmen lassen: „Dass ich fahren lerne, war für mich so klar wie vor dem Unfall auch! Jetzt bin ich sogar früher fertig als meine Freunde!“
Stefan legt allen Ausdruck in die große Gestik seiner Arme und Hände, seine Augen strahlen klug und unternehmungslustig. Zum Fahren verkantet er die eine Hand in einer Dreizackgabel auf dem Lenkrad, mit der anderen gibt er Gas oder bremst. Was seine Finger nicht steuern können, macht der Kopf wett: Ein Druck nach hinten gegen die Kopfstütze löst die Hupe aus, ein Kippen zu den Seiten betätigt Scheibenwischer und Spritzanlage, schräg hinten lassen sich die Blinker einschalten. Ein Spezialsitz und ein Vierpunktgurt geben seinem Oberkörper Halt.
Von den über 16 000 Fahrschulen in Deutschland bieten nur 150 eine anerkannte Behindertenausbildung an; in Göttingen ist Udo W. der einzige. Peter Glowalla, Vizepräsident des Bundesverbandes der Fahrlehrer und Leiter der „Arbeitsgruppe Handicap“ sieht dennoch keinen Grund zur Sorge: „Der Mobilität von Behinderten wird ausreichend Rechnung getragen. Wir bekommen keine Beschwerden.“ Fahrlehrer Udo Wichmann ist ganz anderer Meinung: „Es gibt noch viele unnötige Defizite: Die technischen Möglichkeiten sind fast unbegrenzt, doch häufig konstruieren Einbaufirmen Minimalversionen aus ihren eigenen Systemen, die für den Behinderten weder voll bedienbar noch sicher genug sind. Der TÜV lässt es zu und die Krankenkassen sind dankbar für den geringeren Kostenaufwand.“ Ein weiteres Defizit sieht Wichmann bei den Fahrschulen selbst: „Viele werben mit einer integrativen Ausbildung, sind aber nicht einmal barrierefrei.“
Dass die Behindertenausbildung in Fahrlehrerkreisen mit Vorurteilen und Ressentiments behaftet ist, bekommt Udo W. regelmäßig über dumme Sprüche zu spüren. Dann heißt es: „Doofe und Alte – andere Fahrschüler bekommst du wohl nicht!“
Viel undurchdringlicher als der Göttinger Verkehrsdschungel ist für Stefan das administrative Labyrinth aus Gutachten, Sondergenehmigungen und Förderanträgen. Erst wenn er die Berufsschule beendet und einen Ausbildungsplatz gefunden hat, übernimmt seine Krankenkasse die Fahrschulkosten sowie die dreißig- bis vierzigtausend Euro für den Umbau eines Wagens. Vorerst bleibt sein Führerschein nur ein Symbol für die Unabhängigkeit und Spontaneität, die ihm das eigene Auto eines Tages wiedergeben kann. Dann will der Achtzehnjährige mit seinen Freunden endlich noch einmal nach Ungarn fahren: „Für meinen Unfall kann das Land ja schließlich nichts.“