Touristisches Kuriositätenkabinett

Bei der Produktion unseres “Tourismus”-Hefts sind wir über ein paar interessante Phänome gestolpert, mit denen wir die ernsthafteren Reportagen auflockern wollten. Drei Mal unnützes Wissen rund ums Reisen: von Balkonien über Soweto bis Verdun.

 

veröffentlicht im Nord-Süd-Magazin INKOTA-Brief, 06/2011  >> sowie (Slumtourismus) in der Welternährung 4/2013, S. 9 >>

Katastrophentourismus/ Dark Tourism
Die Faszination für fremdes Elend ist nicht neu: 1921 warben die Basler Nachrichten mit „Reklamefahrten“ über das „Schlachtfeld ‚par excellence’“ von Verdun. Den geneigten Touristen erwarte dort ein „unerhört großartiges Gesamtbild von Grauen und Schrecken“. An einem Ort, wo es „keinen Quadratzentimeter Oberfläche [gibt], der nicht von Granaten durchwühlt wurde“ und „vielleicht 1,5 Millionen Menschen verbluteten“, versprach die Zeitung „unvergessliche Eindrücke“ – das alles natürlich bei „erstklassige[r] Verpflegung“.
So drastisch formuliert heute niemand mehr, doch die Sensationslust ist die gleiche: Jede Naturkatastrophe, vom Elbhochwasser bis zu Hurrikan Katrina , lockt Tausende Schaulustige an, meist spontan und individuell. Einige „verlässliche“ Katastrophen-Hotspots werden auch von Agenturen angesteuert, Tschernobyl zum Beispiel oder die kambodschanischen Killing Fields. Die Abgrenzung zu tatkräftigen Helfern und geschichtsbeflissenen Bildungsreisenden ist allerdings nicht immer einfach, und sicher wird aus der schaurigschönen Erwartung vor Ort auch manchmal echte Betroffenheit.

Slumtourismus
Was sind schon die Copacabana, das Taj Mahal und der Nairobi-Nationalpark gegen Rocinha, Dharavi oder Kibera? Immer mehr Touristen, die keine sein wollen, schließen sich Safaris in die Elendsquartiere dieser Welt an. Was sie dort suchen, verraten die Namen der Anbieter: „Exotic Tours“ oder „Reality Tours & Travel“ – Exotik eben und das „wahre Leben“. Zur Neugierde auf die „andere Seite“ der Metropolen hat sicher auch der große Erfolg von Spielfilmen wie Slumdog Millionaire, Tropa de Elite oder City of God beigetragen.
Slumtourismus, mehr oder weniger organisiert, ist so alt wie soziale Unterschiede – schon im 19. Jahrhundert schlichen wohlhabende New Yorker durch die Lower East Side, um zu sehen, wie die andere Hälfte so lebt. Soziologen sehen das Geschäft mit der Armut zwiespältig: Einerseits verschaffen die Besuchergruppen den Vierteln Einkommensmöglichkeiten und brechen die gesellschaftliche Isolation zumindest ansatzweise auf. Im besten Fall bauen die Touristen Vorurteile ab, wenn sie sehen, wie fortschrittlich sich die Ärmsten der Armen organisieren, etwa bei der Nachbarschaftshilfe oder basisdemokratischen Entscheidungen. Doch Kritiker vermuten, dass externe Agenturen häufig folgenschwer in diese Strukturen eingreifen. Mancherorts sollen sie beispielsweise Abkommen mit Drogenbossen schließen, um die Sicherheit der Touristen zu garantieren. Fraglich auch, was die kurze und oft stumme Begegnung bei Besuchern und Besuchten anrichtet: Im schlechtesten Fall fühlen sich die einen bloß in ihrer Überlegenheit bestärkt und die anderen zu hoffnungslosen Objekten ausländischer Voyeure degradiert.

Urlaub auf Balkonien
In einer Zeit, da die westliche Welt über Alexander von Humboldts Reise in die Aequinoctial-Gegenden des neuen Continents staunte und alles, was Rang und Namen hatte, ausschwärmte, die letzten ‘weißen Flecken’ des Planeten zu ‘entdecken’ – da saß der 27-jährige Edel- und Lebemann Xavier de Maistre in seinem kleinen Zimmer in Turin fest. Hausarrest, sechs Wochen lang; er hatte sich bei einem verbotenen Duell erwischen lassen. Doch statt sich über den Freiheitsentzug zu grämen, drehte de Maistre den Spieß einfach um und schrieb über die ausführliche Erkundung seines Schlafzimmers, die 1790 ein Bestseller wurde (Reise um mein Zimmer) und 1798 als Fortsetzung erschien (Nächtliche Expedition um mein Zimmer).
Was er – neben der Eleganz der Sofabeine und der Komplexität seines Bettes – entdeckte, ist so simpel wie tiefsinnig, in seiner wie in unserer Zeit: Nicht das Höher, Schneller und Weiter des Reisens führt zu wirklichen Erkenntnissen, sondern unsere Einstellung. Wer offen für Unerwartetes, scheinbar Nebensächliches ist, entdeckt vor seiner Haustür mehr als ein selbstbezogener Tourist auf seiner Reise um die Welt.
In Zeiten immer knapper werdender Ressourcen und immer ausgetretenerer Pfade macht De Maistres Downshifting-Ansatz Schule: Der Schweizer Philosoph Alain de Botton (Kunst des Reisens) ‘bereiste’ zu Fuß sein Londoner Viertel und der Spiegel-Korrespondent Tiziano Terzani (Fliegen ohne Flügel) entdeckte die neue Langsamkeit, als er ein Jahr lang aufs Fliegen verzichtete und sich all seinen Recherchezielen respektvoll über Land näherte, erstaunt über die Distanz und die Mitreisenden. Und er erkannte: Die besten Geschichten liegen auf dem Weg und nicht am Ziel.

Nachtrag: Zuhause bleiben statt reisen – interessanter Artikel zum Thema in der taz, 17.8.2014

Foto Strand: CC fffriendly