Sorrache und ein Lebenszeichen

Rundmail aus Buenos Aires

Wie schnell hier die Zeit vergeht – und wie langsam die Erinnerung. Jeden Morgen laufe ich auf meinem Weg zum Goethe-Institut an einem grossen Mural vorbei: “¿Cuánto tiempo más vas a estar esclavizado refugiado en tu soledad? Ojalá: vida!” – “Wie lange noch wirst Du Dich zurückziehen und Sklave Deiner Einsamkeit bleiben? Hoffentlich: Leben!” Vor einem Monat noch habe ich nicht gemerkt, dass diese Hauswand aus der Seele aller Porteños spricht, wie tief die Melancholie dieser immer lachenden Menschen ist, deren Land soeben aus einer ganzen Epoche von Diktaturen und Wirtschaftskrisen aufgetaucht ist, heute 35 % Arbeitslose, keinerlei Sozialversicherung und 30.000 “Verschwundene” hat, deren Mörder freigesprochen wurden…
Als ich das Mural zum ersten Mal las, fühlte ich mich selbst auf eine so eigenartige Weise angesprochen, dass ich mich sogleich umdrehte als suchte ich denjenigen, der mir diese Botschaft hinterlassen hatte. Erwartete ich einen glasäugigen Propheten, der mir rätselhafte Sinnsprüche auf meine Odyssee mitgibt? Bis auf ein paar Plastiktüten, die geisterhaft um die Ecke wehten, war die Strasse jedenfalls leer. Erst als ich begann, das Mural abzuschreiben, bemerke ich plötzlich einen alten Mann auf der Türschwelle direkt hinter mir, der alles gesehen hatte und mir zunickte: “Du willst es wohl nicht vergessen, oder?” Ich konnte es nicht vergessen: Dass ich hier Kopf stehe, dass die Naturgesetze und meine Erinnerungen jetzt nichts mehr gelten… Es war nicht mehr der Jet Lag (“sorrache”) und noch nicht die andine Höhenluft (auch “sorrache”), sondern das plötzliche wieder Kind, also voller Staunen und ohne Sprache sein…
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich all diese ersten Wochen lang nicht nur die stille Beobachterin der unfassbaren Vorgänge um mich herum war, sondern selbst das exotische Element: die fiktive Gestalt einer “einsamen Gringa”, entschlossenen, aber ziellos; einer “rothaarigen Fremden” (für meinen kolumbianischen Ex-Mitbewohner hiess ich Pelorosso), die den roten Faden ihres Lebens irgendwo verloren haben musste. Wenn man diese Person ansprach, nachdem sie schon dreimal an einem vorbeigelaufen war, dann murmelte sie vielleicht ein “Ichsuchedenweg”, wusste auf das “¿Wohin?” aber schon keine Antwort mehr. Ob diese Gringa weiß, wo sie ist? – In einem Land, in dem die Frauen mit Highheels über Schlaglöcher schreiten (sie selbst lief die meiste Zeit, in Turnschuhen); auf einem armen Kontinent, in dem ein bisschen Vorsicht geboten ist (sie liess ihr Portemonnaie rumliegen und lief schon mal nachts alleine durch La Boca).. Niemand wusste wirklich, woher diese Gringa kam und was sie, die offensichtlich keine Touristin war, hergetrieben hatte: “Alemania” sagte sie zwar, aber mit dem merkwürdigsten französischen Akzent; wenn man ihre Heimatstadt erfahren wollte, dann hört man ein “godignyunpueblocercademunsdr” und ein entschuldigendes “ist nicht so gross”. Erst jetzt haben mich diese Leute angesprochen, die mir nie aufgefallen sind, die mich aber seit Wochen beobachtet haben und über mein Auf und Ab rätselten – der Fahrradkurier von der Strassenecke hielt mich für eine Antiquitätensammlerin (¡qué idea!), der Matemann, der irgendwie mit der Türschwelle verwurzelt ist, vermutete eine Liebesgeschichte mit einem Porteño und die bolivianische Kioskfrau staunte nicht schlecht als sie hörte, dass ich ein wenig Quechua spreche – damit hätte sie am wenigsten gerechnet. Ihr verzückt-mitleidiger Blick, als ich ihr “Schwarzbrot” esse, das nur zur Deko gedacht war und “doch nach gar nichts schmeckt, mi hija”, macht mir klar: hier bin ich die Exotin im argentischen Alltag. Die Porteños finden mich ebenso merkwürdig wie ich sie und verstehen nicht, was ich hier mache. Ein Praktikum, von 9 bis 19 Uhr arbeiten ohne Geld zu verdienen? Undenkbar! Und meine Familie? Ja, der geht´s gut. Ja, aber brauchen mich meine Kinder denn nicht? Na, die hab ich im Waisenhaus abgegeben, nachdem ich meine drei Ehemänner um die Ecke gebracht habe. Ach so..! Was hab ich jetzt gesagt?! Ché, ich bin 23! Ja eben..
Der Kulturschock ist wechselseitig, doch das grösste Paradoxon ist wohl der Reisende selbst, dieser Eindringling in fremde Welten – nicht der Pauschaltourist, der richtet in seiner Postkartenkulisse, seinem potemkischen Dorf, keinen Schaden an. Aber der Weltenbummler, der bleibt ohne wirklich zu bleiben, der monatelang auf der Schwelle zwischen Willkommen und Abschied lebt, keinen Kühlschrank und keinen Platz in der Gesellschaft füllt, sondern von der Hand in den Mund, Gelegenheit zu Gelegenheit lebt…

“Was wollt Ihr eigentlich alle hier?!” höre ich alle paar Tage, wenn sich unser Goethe-Techniker Rudolfo wieder über irgendwelche Verspätungen, Schmiergeldforderungen für Filmpakete oder bloss über ein gerissenes Kassettenband aufregt: “Ist doch viel besser in Europa! So ein verrücktes Land, die spinnen alle, die Argentinier; wenn ich bloss weg könnte hier!” Dabei kann er durchaus, mit seinem Schweizer Pass .. Ja, was wollen “wir” denn hier? So mancher Europäer, der ein paar Hundert Meter von hier, im Hafen von Buenos Aires, zum ersten Mal amerikanischen Boden betrat, war ja eher auf der Flucht; radierte seinen alten Namen aus und war auf einmal nicht mehr der Kriegsverbrecher Erich Priebke oder der Sektenführer Paul Schäfer, sondern ein völlig unpolitischer Neureicher, der unter dem Deckmantel der Peron-Regierung in die deutsche “Kolonie” Bariloche im Süden Argentiniens (Patagonien) zog. Gestern hatte hier ein Dokumentarfilm des argentinischen Regisseurs Echeverría Premiere, der über den Pakt des Schweigens in dieser seltsamen Stadt berichtet, in der auch die Kinder und Enkel der deutschen Auswanderer noch im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidet sind, Kaiserdeutsch und ein abgehacktes Spanisch sprechen, den Geburtstag des “Führers” feiern und bis 1995 einen Altnazi versteckt haben, der massgeblich am Massaker in den Katakomben von Rom beteiligt war. Was auf mich fast wie ein Spielfilm wirkte, wurde am Ende auf merkwürdige Weise bestätigt, als sich unter den Zuschauern eine wütende weisshaarige Frau erhob und dem Regisseur in brüchigem Spanisch beschimpfte, man müsse doch irgendeine Identität bewahren dürfen. Sie schienen sich zu kennen, aus Bariloche, aber was sich dann über die Kinosessel hinweg entwickelte war mehr als ein Streit unter Nachbarn und immer mehr Zuschauer mischten sich in die Debatte über die Grenzen von Identität und die Amnestie von Kriegsverbrechern ein, wie man sie sonst im Land des “Nunca Más” viel zu selten hört.
“Wir” dagegen – die Abenteurer, Pasantías und Mochileros – die hier mit unseren Rucksäcken als einzigen Begleitern auf dem Flughafen Ezeiza gelandet sind, sind wohl eher moderne Wilhelm Meister auf der Suche nach unserer Bestimmung. Wie viele Ausländer haben mir nicht mit ihrer Lebensgeschichte geantwortet, um zu erklären, warum es ihr Schicksal ist, jetzt hier zu sein.
Wie meine Mitbewohnerin Céline, Halb-Schweizerin und Halb-Kolumbianerin, die mir da auf dem Balkon gegenübersitzt und mir von ihren Halbbrüdern erzählt, die sie “bald” zum ersten Mal sehen wird. In Kolumbien. Viele Tausend Kilometer Busreise von hier entfernt. Bald, irgendwann, sie hat Zeit. ‘Celina’ hat zwei Jahre lang für diese Reise gearbeitet, ist auf einem Frachtschiff hergekommen und hat keine Rückfahrkarte.. In ihrem Blick, der über die Folkloregruppe unten auf der Plaza und weiter über die Flachdächer unseres geliebten San Telmo gleitet, liegt keine Wehmut sondern Amuesement und in ihrer Stimme die reine Abenteuerlust, wenn sie von der Suche nach dem Ort spricht, an dem sie bleiben kann und der Unmöglichkeit, nach Neufchâtel zurückzukehren; von ihren Freunden, die an Orten wie diesem im Universum verschollen sind – San Francisco, New York, London – und die sie so bald nicht wiedersehen wird. Sie ist völlig frei, für sie gibt es kein Zurück mehr. Und dennoch fühlt sie sich dieser Freiheit nicht ausgeliefert.. Ich dagegen fühle mich oft genug unfrei in diesem desillusionierten Land, das meinem Entdeckungsdrang mit seiner Wegschau- und Weghörkultur, seinen Wachleuten, No-Go-Areas und dem Tanzverbot(!) (seit dem schweren Brand der Cromagnon-Disko) in vielen Boliches entgegentritt. Unfrei in der Weltstadt Buenos Aires, diesem Sumpf der Anonymität, aus dem der einzelne nur durch Konsum kurzzeitig aufzutauchen scheint; in der ihn die neue Hose oder der dritte Schal eher vor der Kälte der blickleeren Bürgersteige schützt als vor den Herbstwinden; in der menschliche Wärme nur eben so lange anhält wie ein Verkaufsgespräch.
Schön einfach für einen ausländischen Touristen, dessen Dollars oder Euro ihn zum König machen, wenn er sich für 150 Pesos (40 Euro) komplett neu einkleidet, für 2 $ (50 Cent) die Schuhe putzen lässt, für 15$ (4 Euro) erstklassig speist, für 7$ (2 Euro) eine Tangostunde nimmt, um schliesslich für 30$ (8 Euro) ein Ballett im Teatro Colón zu sehen, und dann für 10$ (2,50 Euro) im Taxi quer durch die ganze Stadt zur Wohnung zurückzufährt. Wie einfach .. und wie unbefriedigend, sich durch die Schluchten dieser Grossstadt zu shoppen, in denen Gleichaltrige nach Essen suchen und einen im Vorübergehen eine kurze Ewigkeit lang ansehen. Wenn man einmal so einen umgestürzten Müllwagen im Neonlicht gesehen hat, auf den sich inmitten des Feierabendverkehrs Dutzende Kinder stürzen, um mit den Abfällen davonzurennen, beginnt man zu ahnen, dass nicht nur der Mate sondern auch ein Leben oft nichts kostet in dieser ‘europäischsten’ lateinamerikanischen Stadt.

Einen Monat später. Ich bin keine grossäugige Touristin mehr, sondern habe inzwischen einen vorläufigen Platz in Buenos Aires gefunden; also nicht nur den Kalender voller Telefonnummern flüchtiger Bekanntschaften, die ich doch nie anrufen werde, Einladungen in Tigre, Rosario und Líma, die ich womöglich nie annehme, und genug Ideen, um zwei Jahre (aber nicht drei Monate!) hier zu verbringen. Sondern auch einige wirkliche Freunde, die mich diese Stadt doch noch zu lieben lehren, mich dazu brachten, meinen Geburtstag viermal zu feiern und dafür sorgen, dass ich jeden Morgen vor Müdigkeit fest an meinen Mate geklammert, aber glücklich, im Goethe auftauche. Nachdem ich wegen eines etwas hartnäckigen Verehrers nicht mehr zum Quechuakurs gehe, habe ich statt dessen endlich mit Saxophonunterricht begonnen. Unser Lehrer ist fantastisch, und so hippie, dass wir nebenbei in seinem Haus kostenlos üben können!
Um nach all der strassenstaubigen Gesellschaftskritik dieser Mail doch noch mit einem Postkartenidyll zu schliessen, brauche ich nicht weit abzuschweifen. Das Klischee lebt und es ist hier: gerade zum Beispiel trinke ich Mate-Tee, höre Bob Marley und blicke über die Dachterrasse auf jede Menge Palmen und tropische Blumen auf den anderen Hausdächern, von deren Smoggrau sich unsere rosafarbene Betonwand ganz nett abhebt – meine Gastmutter Zully, eine ehemalige B-Film-Schauspielerin, ist hoffnungslos esoterisch und trägt nicht nur eine rosafarbene Brille sondern auch rosa auf. Damit erfüllt sich das Mural zumindest für mich erst einmal: “Ojalà: vida!” Den ‘Propheten’ habe ich seither nicht mehr gesehen.