Lange Wege und ratlose Ärzte

Seltene Krankheiten werden zu wenig erforscht, sagen Mediziner. Florian hat eine seltene Hautkrankheit und wartet auf die Entwicklung eines Medikaments. Ärzte und Krankenkassen reagieren ratlos und manchmal sogar misstrauisch auf ihn.

verbreitet von der Nachrichtenagentur epd, 2. März 2009, 15 Uhr

Florian Strehl kam im August 2004 mit einem offenen Bein zur Welt, er spuckte Hautfetzen und konnte kaum Nahrung zu sich nehmen. “Das Bein hing an einem seidenen Faden – und sein Leben auch”, erinnert sich seine Mutter Jana Strehl. Sechs Monate dauerte die Odyssee durch unzählige Kliniken. Dann diagnostizierte die Freiburger Dermatologin Leena Bruckner-Tuderman die seltene Hautkrankheit Dystrophe Epidermysis Bullosa (DEB) und rettete dem Jungen damit das Leben.

Am 2. März wurde die ärztliche Direktorin der Freiburger Universitäts-Hautklinik in Berlin mit dem Forschungspreis der Eva Luise und Horst Köhler Stiftung für Menschen mit Seltenen Erkrankungen ausgezeichnet. Der mit 50.000 Euro dotierte Preis wurde von der Frau des Bundespräsidenten gemeinsam mit der Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen (ACHSE) zum zweiten Mal vergeben.

“Mit dem Geld wollen wir erforschen, ob man DEB-Patienten einen Klebstoff aus gesunden Hautzellen spritzen kann, der die Hautschichten wieder zusammenhält. An Mäusen haben wir bereits gute Ergebnisse erzielt”, sagte Bruckner-Tuderman. Die 56-jährige promovierte Molekularmedizinerin beschäftigt sich seit 20 Jahren mit der Krankheit. Sie lehrte in Harvard und Hongkong und hat seit 2003 einen Lehrstuhl an der Universität Freiburg.

Florian wurde gleich nach seiner Geburt auf Handtüchern in einen Inkubator gebettet. Am nächsten Morgen war seine Haut krebsrot und mit dicken Blasen übersät: Die Hitze und die rauen Tücher hatten sein Leiden noch verschlimmert. Seine Blasen wurden mit Pflastern überklebt, die beim Entfernen die Haut gleich mit abrissen. “Die Ärzte waren genau so unbeholfen wie wir”, sagt Jana Strehl. “Wir konnten nur noch weinen. Wir hatten das Gefühl, das Leben sei vorbei.”

Ratlose Ärzte, misstrauische Krankenkassen und starrende Passanten haben Jana und Michael Strehl in den vergangenen vier Jahren viele erlebt. Nur ein Mensch unter 100.000 leidet wie Florian Strehl am Gendefekt DEB, in ganz Deutschland gibt es nur 800 bis 1.000 Betroffene. Deshalb kennt kaum jemand die seltene “Schmetterlingskrankheit” Epidermysis Bullosa, die die Haut so empfindlich macht wie einen Schmetterlingsflügel: Beim geringsten Druck bilden sich Blasen, die zu offenen Wunden werden und vernarben.

Jeder zwanzigste Mensch leidet an einer von 7.000 seltenen Krankheiten – und dennoch hat jeder das Gefühl alleine dazustehen. Daher haben sich 80 Selbsthilfegruppen im Jahr 2003 zum Netzwerk ACHSE zusammengeschlossen. “So selten sind die sogenannten seltenen Krankheiten gar nicht”, betont Eva Luise Köhler. Ihre Tochter Ulrike ist an einer seltenen Augenkrankheit erblindet.

Florian schiebt sich ein winziges Stück Gulasch in den Mund, kaut lächelnd darauf herum und spuckt es in ein Taschentuch. “Ich will richtig mit dem Mund essen, nicht mit dem Knopf”, sagt der Vierjährige leise. Der “Knopf” ist Florians Ernährungs-Sonde, die ihm mit 18 Monaten gelegt wurde. Fünf Mal täglich und einmal nachts spritzen seine Eltern püriertes Essen direkt in seinen Magen. Seine Speiseröhre ist durch Vernarbungen fast komplett zugewachsen.

Nach außen hin sieht man Florians Krankheit nicht so drastisch wie bei vielen anderen DEB-Patienten, deren Finger und Zehen durch die ständige Vernarbung zusammengewachsen sind. Deshalb müssen sich Jana und Michael Strehl unentwegt rechtfertigen: Den Reha-Buggy, mit dem Florian auch weitere Strecken zurücklegen könnte, wollte die Krankenkasse nicht bezahlen.

Trotz aller Unterschiede haben die seltenen Erkrankungen vieles gemeinsam: Die meisten sind bisher nicht heilbar, weil die Pharmaindustrie sie vernachlässigt. “Kein Absatzmarkt, keine Forschung, keine Therapien”, sagt Jana Strehl und zuckt resigniert die Schultern. Sie hat Wirtschaftswissenschaften studiert und kennt die Marktgesetze: “Ich glaube nicht, dass DEB therapierbar wird.”

Mindestens fünf Millionen Euro kostet die Entwicklung eines neuen Medikaments. Der Köhler-Preis kann daher nur eine Anschubfinanzierung sein: “Wir wollen einen Schneeballeffekt auslösen und andere Geldgeber auffordern, die Forschung zu unterstützen, etwa die Bundesregierung und die Pharmaunternehmen”, sagt Eva Luise Köhler.

Die Strehls wohnen in einer Straße mit großen alten Bäumen im Berliner Speckgürtel, im Park um die Ecke toben Kinder. Florian wird wohl nie hier spielen. Immer wieder muss Jana Strehl ihren Sohn ermahnen, wenn er quiekend und quasselnd durch die Wohnung läuft. Er darf nicht rennen, nirgendwo anstoßen und niemals fallen, sagen die Ärzte.

Fremden drückt der Blondschopf kräftig die Hand und schaut ihnen keck ins Gesicht als wollte er sagen: “Ich bin zwar klein und krank, aber oho!” Zu Karneval hat Florian verkündet, er wolle Feuerwehrtaucher werden, und sich schon mal als solcher verkleidet. Jana Strehl lächelt gequält: “Beim letzten Schwimmbadbesuch haben alle nur auf seine Sonde gestarrt.”