Schnee im Gelee

Meine ersten französischen Wörter hießen “beugen” und “strecken”. Doch dass es Französisch war, merkte ich erst viel später – wir schufen unsere eigene Sprache. Eine deutsch-französische Alberei

Glosse veröffentlicht in der letzten Ausgabe des deutsch-französischen Online-Magazins rencontres.de (+2010)

Meine ersten französischen Wörter waren nicht etwa „Bonjour“, „Merci“ oder „Merde“, sondern „plié“ und „tendu“. Nicht sehr praktikabel, muss ich zugeben. Aber ich merkte ohnehin erst viel später, dass es sich um Französisch handelte.
Ich war acht Jahre alt, Ballettschülerin und fand, tongdü klinge auch nicht schlechter als tatütata. Und dann konnte man sich das Wort ja auch gut merken: „tooooongdü“ dachte ich und streckte langsam mit aller Kraft das Bein vor. Heute sieht mein „tendu“ sicher schlechter aus; dafür klingt es besser. Und ich weiß, dass meine ersten französischen Worte „gebeugt“ und „gestreckt“ bedeuteten. Andere Ballettworte ließen sich schlechter merken, doch wir waren geübte Konstrukteure von Eselsbrücken. Und so hat sich zu Beginn der Neunziger Jahre in der Kleinstadt Oelde so mancher Passant gewundert, wenn ihm Montag abends aus dem Kellerlichtschacht der Tanzschule eine deutsch-französische Beschwörungsformel entgegenschwappte: „Scheenee, Schnee im Gelee“, murmelten unten zwölf Mädchen ernsthaft und konzentriert, während sie Pirouetten (chaînées) durch den Raum drehten. Die Magie der Polyphonie verlieh uns Flügel.