Was mich eine Sechsjährige lehrt

Wie eine Sechsjährige in einem südafrikanischen Township meine Kamera erobert und meine Vorstellung von Fotografie auf den Kopf stellt. Vergiss die Perspektive!

Wenn ich mich mal zwischen Gras verkrieche oder auf einen Baum klettere, um eine bessere Perspektive für ein Foto zu bekommen, werde ich schon auf meine “akrobatische” Technik angesprochen. Die hätten Sanelisiwe sehen sollen, denke ich mir dann.
Sanelisiwe würde sich bestimmt nicht als Fotografin bezeichnen und hat vor und nach unserer Begegnung wahrscheinlich keine Kamera in der Hand gehabt. Doch ihre Bilder aus dem Bhambayi-Township nördlich von Durban ergänzen meine Eindrücke um eine wichtige Perspektive. Sie sind anarchisch und verträumt zugleich – wie Sanelisiwe selbst.
Sie ist die Jüngste von elf Kindern, die bei “Grandma” Alicia aufwachsen, weil sie keine Eltern mehr haben. Sunny wirkt als einzige völlig unbeschwert. Sie ist nach den Unruhen der Neunziger Jahre geboren. So musste sie nicht mitansehen, wie Nachbarn sich gegenseitig umbrachten, weil sie nach dem Ende der Apartheid die falsche Partei wählten. Ihre älteren “Geschwister” hatten dieses Glück nicht.
Irgendwann kam sie auf mich zugerannt – vielleicht hatte ich zuvor meine Kamera auf sie gerichtet, vielleicht auch nicht. Jedenfalls war sie plötzlich da und hatte auch schon den kiloschweren Apparat in den Händen und schoss einfach drauf los. Schießen, shoot, so nannte sie das auch. Sie war so getrieben und begeistert, dass ich sie gewähren ließ, die Kamera gerade noch unterstützend und ein paar Einstellungen anpassend. Aber die Fotos machte sie.
Die Teenagermädchen aus ihrer Tanzgruppe, die für sie Mütter und Schwestern zugleich sind, warfen mir vorwurfsvoll-verständnislose Blicke zu. Jaaaa, ich bin viel zu nachgiebig bei Kindern. Immerhin patschte Sanelisiwe auf dem Filter herum, so dass den ganzen Tag über kein Bild mehr scharf wurde. Aber das war es wert.

Sie machte alles ganz anders als ich, riss die Kamera herum und fotografierte natürlich von ganz weit unten, aus der Perspektive einer Sechsjährigen. Lomo mit einer Studiokamera. Alle beobachteten unser Tauziehen um das Gerät, während dem Sunny eifrig um sich schoss – und sie lachten verblüfft in die Kamera. Wer, wie, wo und warum stand, war ihr völlig egal, und auch, wie oft sie auf den Auslöser drückte. Ich schrieb die Fotos ab – aber welche Überraschung, als ich sie sah!

Ich war so eingenommen von den Tänzerinnen und dem bunten, lauten, bewegten Geschehen um sie herum, dass in meinen Fotos nichts von der Melancholie und Langeweile der “normalen” Schüler in ihren Uniformen zu sehen ist. Was mir alles entgeht, weil ich zu viel kadriere und überlege! Horizont? Fokus? Fluchtpunkt? Vorder- und Hintergrund? Vergiss es! Sunny hat mich die Poesie des Zufalls und der stürzenden Linien gelehrt – und mich daran erinnert, dass der Fotograf nie als stummer Beobachter verschwindet, sondern immer Teil des Geschehens ist.