Rebell im Schafspelz

Der Schriftsteller Franzobel hält das konservative Österreich mit seinen satirischen Texten über sexuelle Höhe- und politische Tiefpunkte in Atem. Die Gefangenen der JVA Moabit in Berlin konnte er nicht schockieren; dafür traf er hier auf Hobby-Autoren und romantische Seelen.

veröffentlicht im Europäischen Online-Magazin Cafebabel.com, 09/2010, in sechs Sprachen >>

Der Autor! Wo ist der Autor? Der Vollzugsbeamte blickt sich um. Neonlicht erhellt den fensterlosen Gang, der am Ende mit vier weiteren Gängen sternförmig zusammenläuft. Als Panopticum wurde die Justizvollzugsanstalt Moabit im 19. Jahrhundert erbaut, zur besseren Überwachung der Gefangenen. Doch Franzobel hat sich den Argusaugen entzogen, hat sich ein wenig zurückfallen lassen auf der Besucherführung und schaut in den Pausenhof hinein.

Reines Quellwasser, harmloser Text – Franzobel liest aus „Picus. Eine Strandnovelle“

Zwei Männer drehen dort ihre immer gleichen Bahnen wie breitschultrige Schuljungen, die ihrem Leben entwachsen sind. Die meisten Insassen haben die Außenwelt jahrelang nicht gesehen; von einem preisgekrönten Literaten namens Franzobel haben sie gewiss nie gehört. Ideale Voraussetzungen für eine der ungewöhnlichsten Lesungen im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals.

Franz wer?

Sehr schweigsam läuft Franzobel durch die Anstalt, vorbei an Gemeinschaftszellen, an denen keine Namen, sondern behördliche Versorgungszettel kleben: „Weißbrot“, „Moslemkost“, „Strafer“. In jeder Zelle steht, für alle sichtbar, eine Toilette. Bis zu 1300 Häftlinge sind so untergebracht in der JVA Moabit. Sehr ernst noch sitzt Franzobel auf dem Podium, verkriecht sich fast hinter seine Wasserflasche, wird am improvisierten Pult ebenfalls zum Schuljungen. Er, der in den letzten 20 Jahren wohl Tausend Lesungen gegeben hat, ist plötzlich aufgeregt beim Anblick der 60 Gefangenen, die ihre besten Hemden und feierliche Mienen tragen.

Nur 800 Meter Luftlinie sind es von hier zum Haus der Kulturen der Welt, wo ein bildungsbürgerliches Festivalpublikum routiniert von Veranstaltung zu Veranstaltung jagt. Die Gefangenen freuen sich seit Wochen auf diese eine Lesung. „Geschichten kennen keine Grenzen“, glaubt der Berliner Schriftsteller Martin Jankowski, der sich seit 2002 dafür einsetzt, dass zwei berühmte Festivalautoren in den Berliner Gefängnissen Moabit und Tegel vorlesen. Honorarfrei, ohne Verkaufsstand und abseits jeder Öffentlichkeit – und doch kann sich Jankowski vor Anfrage nicht retten.

In breitem Österreichisch entführt Franzobel die Gefangenen ans Meer, wo sein Protagonistenpaar den Urlaub verbringt. Doch das Paar verlässt sein gedankliches Universum nicht. Es zieht sich in immer engeren Kreisen auf sich selbst zurück, in die biedermeierliche Enge der Privatsprachen und gedanklichen Perpetua mobilia: Ist ein Erdbeben Schuld daran, dass sich der Protagonist verkatert fühlt oder hat die Schnapsduseligkeit der Menschen das Erdbeben verursacht?
Martin Jankowski und Franzobel auf dem „Podium“

Keine Drogen, kein Sex, keine Politik – Literatur für Gefangene

Im griechischen Mythos widersetzt sich „Picus“ dem Werben einer Göttin, die ihn von seiner Geliebten trennen will; bei Franzobel trotzt er dem Tod. Das aber liest er nicht einmal vor. Was mag das Literaturfestival bewogen haben, einen solchen Text auszuwählen? Franzobel zuckt die Schultern; vermutlich, weil diese Stelle so „harmlos“ ist, so „gefangenentauglich“, so „nicht-Franzobel“: Keine Drogen, kein Sex, keine Politik. Der Rebell fügt sich und liest seine „Strandnovelle“ Picus, in der sich freie Menschen in Worten verfangen. Die Gefangenen dagegen fragen frei drauf los: „Ihr Werk könnte gar nicht so gut sein, wenn Sie nicht autobiographisch schreiben würden“, folgert ein gewitzter Herr mit Brille. „„In Ihrem Buch bebt die Erde, bei uns im Knast bebt manchmal die Wand. Geben Sie uns also einen Rat:Wie kommt man hier raus?“ – „Mit dem Besucherausweis.“ 1:1. Gelächter. Galgenhumor.

Die Männer mögen den 43-Jährigen, der mit seinem Kraushaar und dem Karohemd aussieht wie ein kreuzbraver Lehrer, und von dem doch behauptet wird, das konservative Österreich in Atem zu halten mit seinen satirischen Romanen über asylpolitische Tief- und sexuelle Höhepunkte (Österreich ist schön. Ein Märchen; Scala Santa oder Josefine Wurznbachers Höhepunkt).
Kleine Karte, große Bedeutung: der Besucherausweis

Sie fragen nicht nach literarischen Motiven oder Erzählperspektiven, sondern ganz pragmatisch, als loteten sie für sich selbst bereits den Beruf des Schriftstellers aus: Verdienen Sie auch genug? Ist das ihr Traumberuf? Und was sagt Ihre Frau dazu, dass Sie keinen Chef haben und tun können, was Sie wollen? Franzobel nutzt die Chance seine Rolle als Enfant Terrible wiederzufinden: „Wenn wir Autoren unsere Fantasie in die Tat umsetzen würden und nicht nur in die Literatur, würden auch wir schnell hinter Gittern landen.“

Michas Texte drängen in die Gegenrichtung
– nach draußen: „Es ist ein Tag wie Maler ihn
lieben/ ein schöner Sommertag zieht durch das Land/ die Sonnenstrahlen dringen durch die Gitter/ doch ich starre auf die graue Wand,“ singt er mit rauer Stimme über die Riffs der „Gitarreros“. Der Name ist das einzige Beständige an der Knastband, die wöchentlich vom „Epitaph“-Gitarristen Heinz Glas unterrichtet wird. Auch ihr Konzert zu Ehren von Franzobel improvisieren sie in komplett neuer Besetzung: Der Bassist wurde in ein anderes Gefängnis versetzt, der Schlagzeuger entlassen und Micha steckte bis vor wenigen Stunden in einer Disziplinarmaßnahme fest.
Bassist versetzt, Schlagzeuger entlassen. Die Gittereros (hier: Micha und Heinz Glas) improvisieren.

Jederzeit neu beginnen – mit dem Leben, mit dem Schreiben

Für den Bassisten ist Benni eingesprungen, ein
pausbäckiger 21-Jähriger mit Baseballcap. Er

sitzt nur in U-Haft und gibt die Hoffnung nicht auf, dass seine bevorstehende Verhandlung mit der Entlassung enden könnte. Von Franzobel lässt er sich einen Zettel signieren und erzählt von seinem eigenen Roman: 300 Seiten aus dem Leben eines adoptierten Jungen habe er geschrieben, autobiographisch. Bis ihm jemand eingeredet habe, er müsse mindestens 1000 Seiten schreiben – da habe er alles vernichtet. Gelassen sagt er das, als könne er alles jederzeit neu beginnen. „Jetzt würde ich meine Autobiographie sowieso ganz anders schreiben, philosophischer.“

Den ersten Roman vernichtet, den zweiten begonnen: Benni

Micha dagegen hadert nach zehn Jahren Knast mit der Zeit: „Das Leben ist zu kurz, um es wegzuwerfen/ warum ging ich nur so weit/ ich könnte mich in den Hintern beißen/ für all die verlorene Zeit“.

„Die Knast-Lesungen haben immer so ‘nen Wums,“ meint Jankowski, der sich in dem kalten Gitterbau so unbeschwert bewegt wie in seinem eigenen Wohnzimmer. In den letzten neun Jahren hat er viele Autoren in den Knast begleitet, von der Maori-Legende Alan Duff (Once were warriors) über den Migrationsexperten Feridun Zaimoglu (Zwölf Gramm Glück) bis zum Ungarn György Dragomán (Der weiße König), der in der rumänischen Ceausescu-Diktatur aufgewachsenen ist.

Raus nach Europa, rein in die Gefängnisse

Viele Schriftsteller hätten den Knast „emotional völlig durchtränkt“ verlassen; Jankowski erinnert sich an einschneidende Geständnisse, peinliche Stolpersteine und große (Brief-)Freundschaften zwischen Autoren und Insassen. Nun soll „Literatur hinter Gittern“ („Literature Behind Bars“) zum europaweiten Modellprojekt werden; Jankowski berät zwei EU-Programme zu „Arts and Culture in Prisons“, die seine Idee in andere europäische Ländern übertragen wollen.

Franzobel muss jetzt eigentlich weiter, zu seiner offiziellen Hauptlesung auf dem Festival. Doch er hat es nicht eilig; erst noch malt er einem schlaksigen Twen eine Geburtstagstorte auf ein Stück Papier, für die Freundin. Seine heimliche Hauptlesung hat Franzobel schon gehabt – hinter Gittern.