Radiomachen im Edel-Squat

Nach meinem Monat als Bonner Beamtenpraktikantin bei der Deutschen Welle wird es jetzt wild: Ich bin nach Marseille getrampt, um in einem Kult(ur)radio auf einem Abrißgelände zu arbeiten. Allons-y, ich nehme Euch mit!

Nach der Deutschen Welle, me voilà sur la côte méditerranéenne, bei Radio Grenouille 88.8! Vom Bonner Riesen mit 1000 Mitarbeitern nun zum Zwerg in Marseille mit 20, von der internationalen zur lokalen Kulturredaktion. Mais attention: Für seine eher bescheidene Größe ist Radio Grenouille gar nicht so übel und äußerst gut vernetzt. Eingebunden in die Kulturfabrik La Friche de la Belle du Mai pflegt Grenouille auch Abkommen mit bedeutenden Kulturevents der Stadt, wie dem Dokumentarfilmfest FID Marseille und dem Festival für Experimentalmusik MIMI auf den Îles du Frioul. Als einziges der fünf Stadtradios richtet es dort öffentliche Live-Plateaus ein und berichtet allabendlich direkt vom Ort des Geschehens. Damit wird Radio Grenouille zu einem Teil der Festivals. Mit ihren avantgardistischen Ansätzen und radiophonen Experimenten sind die Redakteure und Moderatoren selbst stadtbekannte Kulturschaffende.

Doch wie kann ein so kleiner Sender rund um die Uhr an sieben Tagen die Woche ein abwechslungsreiches Programm senden? Durch zwei sehr unterschiedliche Kooperationen: Von ARTE-Radio in Paris bezieht Radio Grenouille aufwändig recherchierte und produzierte Reportagen, vom Netzwerk der französischen Campusradios IASTAR die gelungensten Stücke der Nachwuchsjournalisten. Der Mitarbeiter des Monats seit Computergedenken heißt Polo. Er hat einen Quadratschädel, brummt ständig vor sich hin und hält auch nachts tapfer die Stellung, wenn alle Frösche schlafen. Zum Abendessen bekommt er 16 Stunden Wort- und Musikbeiträge und in Vollmondnächten sogar Klangcollagen aus Tiergeräuschen, mit denen er die schlaflosen Städter unterhält oder ins Reich der Nacht befördert, bis nur noch einer einsam wacht: Polo.

Radio Grenouille ist in Marseille gerade in der linksintellektuellen Szene hoch angesehen. Es gilt als gleichermaßen avantgardistisch und sympathisch, experimentell und engagiert. Grenouille bietet alles, was das Ohr begehrt, nur keinen Mainstream:

Die Berichte tauchen ein in das Leben der Mittelmeerstadt: Ein Flohmarkthändler erzählt die Geschichte seiner Verkaufsobjekte und ein Obdachloser sein Leben; ein afrikanischer Philosoph deutet die letzte Sarkozy-Rede und Toni Negri die Zukunft des Films. Der Dualismus zwischen Kunst auf der einen und Politik auf der anderen Seite verschwindet bei Radio Grenouille. Es spürt die sozialen und politischen Brennpunkten der Mittelmeerstadt auf und zeigt Kultur immer im Rahmen des jeweiligen Milieus. Ähnlich bunt gemischt ist das Musikprogramm des Senders: Es reicht von Jazz über Punk hin zu Hip Hop, stellt französischen Elektro neben algerische Volksmusik, streift Stile und Jahrzehnte und macht nur um die aktuellen Charts einen weiten Bogen.

Den besonderen Charakter dieses Stadtradios lässt schon der Redaktionssitz erahnen: Die Friche de la Belle du Mai war lange Zeit eine industrielle Brachfläche in einem Arbeiterviertel direkt an den Bahnschienen von Marseille. 1992 haben Künstler und Kulturschaffende auf den Ruinen einer ehemaligen Tabakfabrik Container aufgestellt, so dass dort nach und nach 60 kleine Kulturunternehmen mit insgesamt 400 Mitarbeitern einziehen konnten. Mit ihnen kam nach und nach Farbe an die Container, kunstvollen Graffitis an die Mauerreste und die nötige Infrastruktur auf das Gelände. In der verlassenen Tabakfabrik qualmen heute tagsüber die Köpfe und abends die Joints. In direkter Nachbarschaft zu Radio Grenouille werden Kulturevents geplant, Ausstellungen entworfen, Kinos verwaltet und Tanz- und Theaterproben abgehalten. Auf dem Abrissgelände ist ein einzigartiger inspirierender Ort geworden, der sehr typisch für Marseille erscheint. Der Un-Ort der 80er Jahre ist heute die Ideenschmiede für Marseille, die sich 2013 „Europäische Kulturhauptstadt“ nennen will.
Dabei hat der Charme der Improvisation diesen Edel-Squat nie verlassen: Die 400 Mitarbeiter teilen sich vier Toiletten, zu denen man erst gelangt, indem man das Dach herunterhüpft – eine kleine alltägliche Hommage an das Erfinderland des Parcours, für ältere Mitarbeiter oder Rollstuhlfahrer aber undenkbar. Bis zum Nachmittag heizt sich das exponierte Betongelände entsetzlich auf; einzige Kühlung versprechen die leckenden Klimaanlagen, die draußen kühles Wasser vertropfen. Zu später Arbeitsstunde besucht mich regelmäßig eine Maus, die durch die Wand kriecht und schon mal bis auf den Schreibtisch gelangt und an der Computermaus vorbeirennt, ohne sich dieser Artgenossin bewusst zu werden. Ihre Urahnen kannten bestimmt noch die Arbeiter der Tabakfabrik. So verbindet die Mäusegenealogie die Kulturarbeiter mit den „blue collar workers“ und bewahrt sie vor jeder Abgehobenheit. Ob es die leckende Klimaanlage ist, die die Frichiers so solidarisch mit den gesellschaftlichen Randgruppen macht?
Eine Friche sei der „Versuch zur Reterritorialisierung, zur Wiederherstellung eines realen Ortes“ und damit eine Antwort auf die „Tyrannei der allzu realen, virtuellen und verweltlichten Zeit“, schreibt der französische Philosoph und Medienkritiker Paul Virilio. Das ist in Marseille gelungen. Doch gleichzeitig scheint es, als sei das Quartier mit seinen Tunneln, Spelunken und Türschwellenteenies auf so viel Realismus gar nicht vorbereitet. Es gibt keinen erschwinglichen Mittagssnack in einem Kilometer Umkreis. Als sich vier Künstler zur Rushhour mit Gummibändern an den Ampeln vor der Friche anketten und in der Rotphase auf die Straße hechten, um gleich darauf zurückgeschleift zu werden, ist dieses Wirklichkeit gewordene Computerspiel den Autofahrern nicht ganz geheuer: Sie zeigen, wie gut sie das Ignorieren des Nicht-Ignorierbaren beherrschen. Ich finde, das sollte man sich in Marseille für blöde Anmachen aufsparen und stehe minutenlang mit offenem Mund an der Kreuzung. Außenstehende Besucher trauen sich nicht an dem griesgrämigen Wachtmann mit seiner Bulldogge vorbei. Bei so viel „Street-Credibility“ ahnt kaum jemand, was für ein freundliches Duo sich dahinter verbirgt. (Ich habe es erst an einem Wochenende herausgefunden, als sie bei einem Fotoshooting auf dem verlassenen Gelände plötzlich hinter Andy und mir auftauchten. Habe mich ziemlich erschrocken, dabei warteten sie nur, um nicht durchs Bild zu laufen.)

A hard night’s day

Obwohl meine Französischkenntnisse in vielen Lebenslagen erprobt sind, empfinde ich das journalistische Arbeiten in einer Fremdsprache grundsätzlich als besondere Herausforderung. In weiten Teilen des europäischen Journalismus gilt das Schreiben als so heiliger Akt, dass allenfalls in der eigenen Muttersprache entsprechende Versuche unternommen werden dürfen. Dieses Tabu durfte ich hier überschreiten und es mir im Französischen bequem machen. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass das Schreiben in einer Fremdsprache meinen Arbeitsprozess zwar etwas verlangsamt, aber die Ergebnisse keineswegs schlechter werden – vorausgesetzt, es findet sich wie bei Radio Grenouille jemand, der die Texte Korrektur liest. Bei den Sprachaufnahmen war auch mein Akzent kein Problem, sondern wurde im Gegenteil als stilistische Eigenart geschätzt. Wenn man bedenkt, dass in einigen deutschen Radios sogar Dialektsprecher tabu sind, ist mit einer so selbstverständlichen Akzeptanz sicher nicht in allen Redaktionen zu rechnen.
Erneut ist mir ein großer Unterschied in deutscher und französischer Kulturberichterstattung aufgefallen, den ich schon während eines Praktikums bei ARTE in Strasbourg bemerkt habe: Die Franzosen gleich welcher gesellschaftlichen Schicht sind auch bei Kulturthemen „Gourmets“; sie goutieren mit der größten Selbstverständlichkeit anspruchsvolle und avantgardistische Sujets, die sich das breite Publikum in Deutschland von vornherein nicht „zutraut“. So wird auch das völlig unterschiedliche Bild von ARTE links und rechts des Rheins begründet (und die daraus resultierenden Zuschauerzahlen): In Deutschland gilt ARTE schnell als (zu) anspruchsvoller Sender, in Frankreich als gelungenes Unterhaltungsfernsehen. Im französischen Journalismus werden auch schwierige Kulturthemen im Hauptgang serviert – ausführlich und ohne schüchtern auf deren Relevanz hinzuweisen. Dieselben Themen werden dem Publikum in Deutschland angeboten wie ein Nachtisch einem völlig übersättigten Gast – mit Überredekunst, leicht und in kleinen Häppchen. Vielleicht sollte man dem deutschen Publikum ruhig mehr zutrauen und ihm Kulturthemen wieder schmackhaft machen.

Weitere Einträge zu Marseille/ Radio Grenouille:

Wie ein Frosch im Wasser – Radio Grenouille 888

Comments

  • Hi,
    super blog!!!!! da kann ich mir noch was abschaun…
    hab noch nicht ganz durchgeschaut, aber mach ich noch! voll lässig!!!!

    Julia Schmale27. Juli 2008
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