Differenz der Ortszeit zu Berliner Zeit: 10 Minuten

Zuhause auf Durchreise

… steht in abgeblätterter Altdeutscherschrift an der Wand des Bahnhofgebäudes in B. Für den Sonnenstand mag das ja gelten, doch in Bezug auf das Bewusstsein der indigenen Bevölkerung Westfalens beschönigt das Schild doch sehr. Zehn Minuten! Schön wär’s! In meiner Heimat, dem Land der Lokalzeitungen, Zweitbücher, Bahnangestellten und Vereinsmeister, verspäten sich Gedanken und Erkenntnisse auch schon mal um zehn oder gar 100 Jahre. Sicherlich, die CeBIT findet keine 100 Kilometer von hier statt und mit dem Güterzug aus Hamburg rollen hier jede Woche Waggons mit chinesischen Schriftzeichen über die Gleise, voller Handys und Digitalkameras für diesen entlegenden Winkel zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen. So lange man auf seiner Scholle sitzt und in der WHO, so lange man Konsument von Kinderarbeit und fremden Patenten bleibt und die anderen die Arbeit machen, kann man den Anschluss ja gar nicht verpassen! Die Hochschulen um die Ecke entlassen schweigsame Studenten ins Land, die sich vor dem Drei-Wort-Satz-Gewummer hinter ihre Kopfhörer verziehen und sich weit weg träumen…

Kleinigkeiten sind es, die mich auf der Zugfahrt zwischen L. und G. berühren, die unerwarteten Gesten mitten im erwartungsgemäßen Alltag: Da liegen drei Erdbeerkisten auf einem abgeernteten Feld, wohl vom Hochwasser angespült; da ist eine Gruppe Pfadfinder, die sich tatsächlich über Knotentechniken unterhalten und in einem Leben außerhalb ihrer Kluft gar nicht vorstellbar sind; und da sind die angetrunkenen Kegelfrauen, die wohl vor Jahren beschlossen haben, der Welt zu trotzen, indem sie gemeinsam graue Haare, große Hüftringe und harmlose Gedanken ansetzen. Wie sonst sollte man sich in der Lautstärke so lange und so laut über die Ausstiegrichtung unterhalten können?
Und dann plötzlich, als wolle es der Landgesellschaft einen Hauch von Exotik und Multikulti demonstrieren, taucht ein einsames Rehkitz im Unterholz auf. Doch als wir uns gar nicht höflich benehmen, als wir nicht grüßen, als wir polternd und stinkend eine Handbreit an ihm vorbeifahren, schaut es uns verschreckt an, als habe es seinen Auftritt bereut. Die Natur ist das Unnatürlichste und Unerwartetste, das man sich auf dieser Fahrt über Land in Gesellschaft der Handykinder und Kegelfrauen vorstellen kann.
Wie könnte mich das kalt lassen; die Palette an grünen und grauen Schattierungen, die Zickzackmuster, die der Regen auf der Scheibe hinterlässt und die an ihr Gegenteil, an Sonnenstrahlen erinnern, des weiteren an tropisches Klima und Andenpfade. Doch so sehr mich das alles beglückt und bewegt, so fehlen mir doch die Worte, es zu beschreiben.  Zu banal scheint alles, die Antworten höre ich bei jeder Beobachtung schon mit. Zu wissen ist etwas anderes als zu sehen, erstmals zu sehen. Vielleicht bleibe ich auch in meiner ‚Heimat’ immer nur Durchreisende und Beobachtende.