Ohne Auto mobil

Die Kinder der „Generation Golf“ steigen nicht in den „E-Golf“ um, sondern aufs Fahrrad. Doch Politik und Industrie halten am Status Quo fest.

veröffentlicht als EPD-Feature am 5. Februar 2011 >>, abgedruckt in der Main-Post/ Main-Echo am 9.2. >> und den Grafschafter Nachrichten am 15.2. >>

Die erste „Familienkutsche“ der Heineckes hatte fünf Räder und nicht mal ein PS: Gabriele Heinecke fuhr auf dem Fahrrad vorneweg, die größte Tochter rollte im Nachläufer mit und die beiden Kleinen ganz hinten im Fahrradtransporter. Ein abenteuerliches Gefährt, auf das Freunde und Nachbarn in Osnabrück mit Kopfschütteln reagierten: „Wollt Ihr immer noch kein Auto?“
Wer sich bewusst gegen ein Privatauto entscheidet, gehört noch zu einer Minderheit. Doch das könnte sich bald ändern. Im Jahr 125 nach Benz steht das automobile Zeitalter vor einer entscheidenden Wende: Die Erdölvorräte gehen zuneige, der Verkehr verantwortet ein Viertel aller Treibhausgase und das Auto, wie wir es kennen, ist für junge Stadtbewohner nicht mehr sexy. Die Kinder der „Generation Golf“ steigen um – fragt sich nur, worauf?
Als Toyota vor genau zehn Jahren das erste Hybridauto auf den deutschen Markt rollte, schien die Antwort klar. „Die Zukunft atmet auf“, lautete der selbstbewusste Slogan für die Mobilität aus der Steckdose. Doch was in den USA zu einer hollywoodreifen Erfolgsgeschichte wurde – Stars wie Leonardo DiCaprio und Cameron Diaz fahren zur Oscar-Verleihung mit Hybridautos vor und eine halbe Millionen US-Amerikaner hinterher – ist in Deutschland eine Nische für superreiche Zweitwagenbesitzer geblieben. Ein Jahrzehnt nach seiner Einführung fahren laut Kraftfahrt-Bundesamt gerade einmal 30.000 Hybride und nur 1.500 reine Elektroautos über deutsche Straßen, zwischen 42 Millionen Ottonormalverpestern.
Mithilfe einer 500-Millionen-Euro-Subvention aus dem Konjunkturpaket II soll auch Deutschland bei der Entwicklung von E-Autos aufholen. Greenpeace-Verkehrsexperte Wolfgang Lohbeck hält das für einen Irrweg: „So lange der Strom aus Kohlekraftwerken kommt, sind auch E-Autos CO2-Schleudern“, warnt er. Außerdem sei ihre Entwicklung zu teuer und zu langsam angesichts des EU-Ziels, die Emissionen bis 2020 um 20 Prozent zu reduzieren.
Den „Elektrohype“ hält Lohbeck für ein Alibi, um weiterzumachen wie bisher: Mit privaten Autos, die täglich 23 Stunden herumstehen. Mit Motoren, die für Höchstleistungen auf der Autobahn ausgelegt sind. „Aus ökologischer Sicht sind das Fehlkonstruktionen, deren Probleme durch Elektroautos keineswegs gelöst werden”, kritisiert er. Den Beweis für seine Theorien parkte Greenpeace 1997 erstmals auf der Automesse IAA: das umgebaute Serienauto „SmILE“ (Small, Intelligent, Light, Efficient), das bei gleicher Leistung nur die Hälfte des Sprits verbraucht. Doch anstatt den sparsamen SmILE nachzubauen, nutzte VW beim Golf VI dessen Technik der Hochaufladung, um die Leistung zu verdoppeln. Eine bittere Erfahrung für Greenpeace.
Noch immer leisten sich neun von elf Haushalten einen Pkw und geben für ihr „liebstes Kind“ durchschnittlich 269 Euro im Monat aus, mehr als einem Kind von Hartz-4-Empfängern zusteht. Doch Autofahren hat nichts Triumphierendes mehr; es ist zur lästigen Pflicht derer geworden, die in den Achtzigern vom Eigenheim träumten – im suburbanen Grün, mit Doppelgarage und Pendlerpauschale, weit weg vom öffentlichen Verkehrsnetz. Nur die Autoindustrie wirbt weiter unbeeindruckt mit „Freiheit“ und Geschwindigkeit.
„Die Reurbanisierung macht das Auto zunehmend entbehrlich“, sagt Verkehrswissenschaftler Helmut Holzapfel von der Universität Kassel. „Die autozentrierte Mobilität hat ihren Höhepunkt bereits überschritten.“ Erste Anzeichen für einen Paradigmenwechsel sieht er auch bei seinen Studenten: „Viele haben erst einmal kein Geld für ein Auto, entdecken das Radfahren als den wahren Luxus und bleiben dabei.“ Auslöser sei oft eher Pragmatismus als eine Orientierung an Lebensstilmodellen wie „Downshifting“ oder „Loha“ (Lifestyle of Health and Sustainability).
Wenn Greenpeace-Experte Lohbeck beobachtet, wie spielerisch seine Kinder zwischen verschiedenen Kommunikationsmitteln wechseln, steht ihm die Mobilität der Zukunft klar vor Augen: „Wir werden uns je nach Situation passende Verkehrsmittel aussuchen und sie mit demselben Tarifsystem bedienen. Das Besitzen eines einzelnen Fahrzeugs wird immer unwichtiger.“ Die Osnabrücker Musikerfamilie Heinecke lebt dieses Modell schon heute: Zum Einkaufen laden sie den Radanhänger voll, für Ausflüge leihen sie sich ein Stadtteilauto und in den Urlaub geht’s mit der Bahn. Mehrere Hundert Euro spart die Familie im Monat so – und viel Stress, glaubt Gabriele Heinecke. „Wir unternehmen weniger als Familien, die mal eben hierhin und dorthin flitzen. Aber was wir machen, genießen wir.“