Mit aller Kraft gegen den Klimawandel

Als Ärmste der Armen tragen indische Fischer kaum Schuld am Klimawandel. Doch sie sind die ersten, die mit seinen Folgen leben müssen. Als der Zyklon Aila 2009 auf die indischen Sundarbans traf, ertranken Tausende Menschen, weil sie nicht rechtzeitig gewarnt wurden. Seither bildet die Welthungerhilfe in zehn Küstendörfern Frühwarn-Gruppen aus und lehrt sie, mit den Folgen von Klimaextremen umzugehen – denn der nächste Zyklon kommt bestimmt.

veröffentlicht im Magazin der Welthungerhilfe, 4/2015, S. 17-19 >>

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Ein dumpfer, schneller Gong schreckte Gouri Pramanik am 25. Mai 2009 aus dem Schlaf. Es klang wie der Gong, mit dem Familien in den Sundarbans die Götter anrufen. Doch die Schläge waren anders, aufgeregter. Als die 65-Jährige aufstand, um nachzuschauen, rannten ihr die Nachbarn schon entgegen: „Bringt euch in Sicherheit, der Deich bricht!“

Die Warnung kam keine Sekunde zu früh. Das Wasser flutete die Siedlung bis auf Fensterhöhe, doch die Bewohner konnten sich in Sicherheit bringen. Auch Manik Gayen, der den Gong noch in der Hand trug. Als Wirbelsturm Aila heranzog, war er zum Fluss gelaufen, um den Wasserstand zu überprüfen. Geistesgegenwärtig nahm er den Gong mit – und musste ihn gleich benutzen.
„Einen Sturm wie Aila habe ich noch nicht erlebt“, sagt Sahdev Sardar, der mit seiner Familie auf der Sundarbans-Insel Kaikhali lebt. „Kaum war die Sonne aufgegangen, wurde der Himmel wieder nachtschwarz. Der Sturm toste heran und brachte sintflutartigen Regen. Gegen zehn Uhr brach der Deich. Das Wasser flutete unsere Siedlung, drang durch Fenster und Türen in die Häuser. Wir schwammen einen halben Kilometer den Deich hinunter.“

Mit letzter Kraft erreichte Familie Sardar eine Notunterkunft. Sahdevs Schwiegertöchter überlebten nur, weil sie sich an seine Söhne klammerten – sie hatten nie schwimmen gelernt. Ihre Tiere ertranken, das Haus zerbarst und die Felder waren drei Jahre lang so versalzen, dass sie keine Ernte trugen. Und doch hatten die Sardars noch Glück: In den umliegenden Häusern, Dörfern und Inseln starben am selben Morgen Tausende Menschen, Hunderttausende verloren ihr Land und ihre Arbeit, eine Million Menschen wurden obdachlos. „Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht.“ Sahdev blickt auf den Fluss Matla, der jetzt so ruhig daliegt. „Doch seit Aila kann ich bei Regen nicht mehr schlafen.“

Die Sundarbans liegen im Ganges-Delta zwischen Bangladesh und Ostindien – dort, wo sich nach hinduistischem Glauben Lord Shivas Zopf auflöst und mit dem Meer vereint. In diesem Labyrinth zwischen Land und Meer leben dicht gedrängt viereinhalb Millionen Menschen.

„Die Grenzen zwischen Land und Wasser ändern sich ständig und unvorhersehbar“, schreibt der indische Schriftsteller Amitav Ghosh in seiner Novelle „Hunger der Gezeiten“ über die Sundarbans. Die Bewohner wussten sich zu helfen: Sie legten Deiche, Fischteiche und Hochbeete an und gingen im Archipel auf Krabbenfang. In den letzten Jahrzehnten jedoch bringen hier immer extremere Wirbelstürme und Überschwemmungen das Gleichgewicht ins Wanken. Schon jetzt sind mehrere Inseln überflutet, der steigende Meeresspiegel verleibt sich bis zu 200 Meter Land jährlich ein.

Vom Klimawandel hat Sahdev auf Kaikhali nie etwas gehört. Dabei ist er Experte für seine Folgen: Sahdev hat beobachtet, dass der Monsun zu anderen Zeiten eintritt als in seiner Jugend, dass der Meeresspiegel steigt, die Zyklone häufiger und heftiger sind und selbst die Krabben in kältere Gewässer abwandern.

Sahdevs Familie hat kein Auto, keinen Stromanschluss und wenn er seine Frau besucht, die seit dem Zyklon als Haushälterin in Kalkutta arbeitet, nimmt er den Bus. Sein ökologischer Fußabdruck ist fast unsichtbar; in Europa hat jedes Kleinkind mehr Kohlendioxid in die Atmosphäre geblasen als Sahdev in einem halben Jahrhundert. Wenn es an den Bewohnern der Sundarbans hinge, gäbe es keinen Klimawandel – und doch sind sie seine ersten Opfer.

Deshalb hat die Welthungerhilfe bei all ihren Projekten die Folgen des Klimawandels im Blick. So unterstützt sie in den Sundarbans ihren langjährigen Partner SRAN (Sri Ramakrishna Ashram Nimpith), der die Bewohner von Kaikhali nach dem Zyklon Aila monatelang unterbrachte und versorgte. Nun geht es darum, sie für solche Situationen besser zu wappnen. Jeden Morgen versammeln sich im Ashram der Partnerorganisation SRAN gut 50 junge Ernährungsberaterinnen und Agrarwissenschaftler um den Mönch Swami Sadananda. Mit oranger Robe und breitem Lächeln organisiert er die Teams, die täglich bis auf die entlegenen Inseln fahren, um Familien zu beraten, wie sie den Wetterextremen besser begegnen können. In zehn Dörfern bildeten die Berater Frühwarn- und Erste-Hilfe-Gruppen aus – auch im Dorf von Manik, der seine Nachbarn 2009 notdürftig mit dem Hausgong warnte. Bei der nächsten Unwetterwarnung sind ihre Rollen klar verteilt: Um die Nachbarn zu alarmieren, wird die heute 71-jährige Gouri den Gong schlagen und ihre Freundin Brishaspati Halder das Sanksha-Horn blasen. Der mittlerweile 36-jährige Manik wird das Erste-Hilfe-Team vor Ort leiten, das Verletzte aus Gebäuden abseilen, auf selbstgebauten Tragen transportieren und Wunden verarzten kann.

Bei Bauer Dilip Mondal aus Baishata trägt die Beratung durch SRANs Landwirtschaftsexperten schon Früchte. Er hat einen Frischwasserteich gegraben und mit dem Auswurf seinen Acker um einen halben Meter aufgeschüttet. So kann ihm die nächste Überschwemmung nichts mehr anhaben. Mit Bohnen, Bananen und Gurken verdient er auf der gleichen Fläche schon jetzt fünf Mal so viel wie sein Nachbar, dessen Feld noch der Versalzung ausgesetzt ist.

Sahdev Sardar ist froh, dass er es mit der Welthungerhilfe geschafft hat, Haus und Hof neu aufzubauen. „Mein Sohn wollte mich überreden, in die Stadt zu ziehen”, erzählt er. „Aber als Hilfsarbeiter in Kalkutta müssten wir uns viel gefallen lassen. Hier sind wir unsere eigenen Herren und haben unser eigenes Land.“ Auf den nächsten Zyklon fühlen sie sich viel besser vorbereitet. „Uns wird genug Zeit bleiben, um mit Sack und Pack in Sicherheit zu flüchten“, sagt Sahdev. Ihre wichtigsten Dokumente haben sie trotzdem nach Kalkutta bringen lassen. Vorsichtshalber.

Text auf Grundlage meines Interviews mit WHH-Klimareferent Michael Kühn zum Thema >>