Kindheit im Neonlicht

In einer indischen Textilfabrik sind dem italienischen Fotografen Alessandro Brasile erschreckende Aufnahmen gelungen: Dort werden minderjährige Mädchen als Zwangsarbeiterinnen gefangen gehalten. Nach außen hin preist die Firma dies als „soziales Engagament“ an.

veröffentlicht im SÜDLINK, dem Nord-Süd-Magazin von Inkota, 09/2012, S.22-23 >>

Es beginnt mit einer optischen Täuschung: Hunderte, wenn nicht Tausende Masken scheinen den Betrachter anzustarren, eine Armee von Puppenklonen, in Reih und Glied platziert. Erst auf den zweiten Blick erschließt sich das eigentliche Geschehen: rosa behaubte Arbeiterinnen, die sich zu einem Morgenappell versammelt haben. Ein Bild, das frösteln lässt – trotz der warmen Farben, die so irreführend sind wie der Begriff, mit dem diese Kinderarbeiterinnen bezeichnet werden: Sumangali, glückliche Bräute.

Der italienische Fotograf Alessandro Brasile hat ForscherInnen der Nichtregierungsorganisation SOMO in die südindische Textilfabrik KPR Mills begleitet, die vom umstrittenen Sumangali-Vertragsprinzip Gebrauch macht. Auf ihrer Website preist die Firma die Zwangsarbeit von minderjährigen Mädchen wörtlich als „soziales Engagament“ an: „KPR rekrutiert Frauen aus abgelegenen Dörfern und bietet ihnen höchste Annehmlichkeiten neben Bildung, Freizeit, Ausbildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Wir sind stolz darauf sagen zu können, dass KPR einen lobenswerten Beitrag geleistet hat, der als einer der besten in der Geschäftswelt anerkannt ist.“
Brasile, der unter anderem als Werbe- und Theaterfotograf arbeitet, entlarvt diese Fassade. Dazu braucht er keine Skandalbilder, keinen Dreck, keine sichtbare Gewalt. Seine Bilder zeigen die architektonische Strenge der Fabrikunterkünfte, blitzblanke Fliesen, geordnete Reihen, adrette Uniformen. Doch wie beim Morgenappell gibt es in Brasiles Bildern immer eine zweite Ebene, die Zweifel sät und Unbehagen auslöst. Wenn drei Mädchen ihm die Tür zu einem sterilen Gruppenraum öffnen, dann wirkt diese Geste ängstlich, eingeübt, allzu demonstrativ.
Doch eines kann die Firma nicht kontrollieren und standardisieren: Die Mienen der Mädchen erzählen alles, was die CSR-Kulisse verbirgt. Mit leerem Blick, verlassen und traurig, verrichtet eine unbekannte Fabrikarbeiterin ihre Fron unter Neonröhren – doppelt gefangen in einer fensterlosen Halle inmitten eines umzäunten Fabrikgeländes. Im Speisesaal findet Brasile ein Mädchen vor einem halbleeren Reisteller. Endlose Nächte am Fließband haben ihrem Blick alles Kindliche genommen; anders als ihre Kolleginnen weicht sie der Kamera nicht aus, sondern wendet sich ihr zu, ohne Sympathie oder Zorn, aber wissend um die Dichotomie der Welt. Als ahne sie, dass die späteren Betrachter die Kleider tragen werden, für die sie kaum bezahlt wurde.