Neue Werte: Die Renaissance der Gleichheit

Um den Entwicklungsstand eines Landes zu bestimmen, schauen die Vereinten Naionen in diesem Jahr erstmals auch, wie weit die Schere zwischen Arm und Reich auseinandergeht. Sie ergänzten den Human Developmet Index (HDI) um den Faktor der Ungleicheit – ein Paradigmenwechsel.

veröffentlicht im Nord-Süd-Magazin INKOTA-Brief, 12/2010, S.4 >>

Der Roman „América“ von T.C. Boyle beginnt mit dem Zusammenprall zweier Amerikaner, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. Delaney Mossbacher, gebildet, wohlhabend, neurotisch am Status Quo klebend, und Cándido, ohne Papiere, Arbeit und ärztliche Hilfe. Gut geht es keinem der beiden: Delaney lebt in mörderischem Misstrauen, Cándido in existenzieller Angst und verzweifelter Hoffnung.

Wer nach dem Entwicklungsstand eines Landes fragt, fragt nach dem Wohlbefinden seiner Bürger. Aber wie misst man Wohlbefinden? Je nach Zeitgeist und ideologischem Standpunkt geben Länderrankings darauf die unterschiedlichsten Antworten: Der Ländervergleich der Weltbank hält bis heute am Dogma fest, Entwicklung sei in Rupien oder Dollar zu messen. Als der erste Human Development Index (HDI) der Vereinten Nationen 1990 „weiche“ Faktoren wie Gesundheit und Bildung ins Spiel brachte, war das eine kleine Revolution.

Doch was, wenn der HDI Indien schon zum „Schwellenland“ ernennt, obwohl niedrige Kasten, religiöse Minderheiten und Landbewohner am Wohlstand nicht teilhaben? Was, wenn in der Weltmacht USA viele Bewohner nicht krankenversichert sind? Und was, wenn in Deutschland Frauen für die gleiche Arbeit 25 Prozent weniger Lohn erhalten? Die Autoren des Human Development Reports haben das Problem erkannt und das Ranking in diesem Jahr erstmals um den Faktor der Ungleichheit ergänzt. Das Ergebnis kommt nicht überraschend: Die Länder lassen durchschnittlich ein Fünftel ihres Potenzials bei Bildung, Einkommen und Gesundheit verpuffen, weil sie ihre Ressourcen ungerecht verteilen. Wenn man Gleichheit als Wertmaßstab berücksichtigt, sinkt die USA im Ranking um neun Positionen und Indien steht schlechter da als viele afrikanische Länder. Wachstum ist eben noch kein Wohlstand.

Soziale Ungleichheit gibt es nicht nur zwischen Nord und Süd, sondern auch auf nationaler Ebene. Der Zusammenstoß der „Haves“ und „Have-Nots“ in Boyles Roman ist keine apokalyptische Fiktion, sondern verdichtete Wirklichkeit. Gerade bewies eine britische Studie von Kate Pickett und Richard Wilkinson, welche Konsequenzen strukturelle Benachteiligung für die innere Verfasstheit einer Gesellschaft hat: Industrieländer mit einer großen sozioökonomischen Kluft haben eine höhere Rate an Gewalt, Übergewicht und Drogenabhängigkeit. Gesellschaften, die ihre Ressourcen aufteilen wie Japan oder die skandinavischen Länder, ermöglichen längere, gesündere und glücklichere Leben. Außerdem sind sie produktiver, weil sich Talente besser entfalten können – und davon profitieren auch die Reichen.

So simplistisch und undurchschaubar man Rankings auch finden mag: Der neue HDI-Faktor ist ein Paradigmenwechsel, denn hinter jeder Statistik steht auch eine Wertedebatte. Gleichheit – diesem Begriff haftet etwas Zwanghaftes an, das nicht in unsere hedonistische Gegenwart passen will. Dabei meint „égalité“ keine Gleichschaltung, sondern Gleichwertigkeit: Menschen sind unterschiedlich, aber sie haben die gleichen Grundbedürfnisse und das gleiche Recht auf ein erfülltes Leben. Der Human Development Report 2010 hat diesen Begriff wieder aufgewertet – als einen wichtigen Weg, um Armut zu bekämpfen.

Headerbild: Screenshot: Index für menschl. Entwicklung 1970-2010 in versch. Ländern, oben u.a. Japan und Indonesien, unten u.a. DRKongo und Simbabwe, HDI-Report 2010