Unruhe nach dem Sturm

Taifun Haiyan hinterließ eine Schneise der Zerstörung auf den Philippinen. Das Inselparadies von einst ist nicht wiederzuerkennen. Millionen haben alles verloren, Tausende sind gestorben. Mittendrin eine junge Nothelferin, die vor einer Entscheidung steht: Wem soll sie Unterstützung ausschlagen, wenn die Hilfe nicht für alle reicht?

erschienen in der “Welternährung” 4/2013, der Zeitung der Welthungerhilfe >>

In der Telefonleitung rauscht es. Keine technische Störung, sondern ein sintflutartiger Regen, der seit Stunden auf die Insel Panay herabprasselt. Auf die zerschmetterten Fischerbooten am Strand. Auf Palmenstümpfe, die grotesk in alle Richtungen ragen. Auf Menschen, die in ihren notdürftig reparierten Hütten kauern. Und auf die Nothelferin Elisabeth Biber. „Die Regenzeit ist noch nicht vorbei“, sagt sie später im Trockenen. „Umso mehr drängt für uns die Zeit.“ Die 26-Jährige ist die Jüngste von sechs Nothelfern der Welthungerhilfe, die die Filipinos auf den Inseln Panay und Cebu beim Wiederaufbau unterstützen.
Seit der Taifun „Haiyan“ am Morgen des 9. November die Philippinen erreichte, ist das einstige Inselparadies der Visayas nicht wiederzuerkennen. Über vier Millionen Menschen haben ihr gesamtes Hab und Gut verloren, über 5000 Menschen sind gestorben. „Die Zerstörung ist unfassbar groß.“ Elisabeth Bibers Stimme am Telefon stockt. Den Betonbauten der Mittelschicht konnte der Taifun wenig anhaben, doch die Hütten der armen Fischer, Tagelöhner und Kleinbauern riss er fort.
Ida Billiones hat noch einmal Glück gehabt: Von ihrer eigenen Hütte ist nichts mehr zu sehen, doch sie rettete sich ins Haus ihrer Nachbarn. Am dringendsten fehlt es ihr und den anderen Obdachlosen an Werkzeug und sauberem Wasser. Die Welthungerhilfe hat daher mobile Wasserfilter nach Panay gebracht, mit denen 2500 Menschen vor Ort täglich sauberes Trinkwasser erhalten. Außerdem verteilt sie Pakete mit Planen, Moskitonetzen, Solarlampen und Reparaturmaterial an 5000 Familien. So können sie ihre Hütten selbst zusammennageln und die Dächer flicken.
„Die meisten Organisationen haben sich auf die besonders schwer zerstörte Stadt Tacloban gestürzt“, erzählt Birgit Zeitler, die den Einsatz koordiniert. „Darum konzentrieren wir uns lieber auf die abgelegenen Inseln Panay und Cebu.“ Die Koordination ist nicht einfach, weil über 13 Millionen Menschen im Archipel betroffen sind und die Infrastruktur fast völlig zerstört ist. Doch die erfahrene Nothelferin klingt gelassen – nach über einem Jahrzehnt in den Krisen- und Katastrophengebieten der Welt kann sie wenig schrecken. „Es ist toll zu sehen, wie pragmatisch die Filipinos mit der Situation umgehen. Sie haben sich sofort an die Aufräumarbeiten gemacht“, erzählt Zeitler. „Man merkt, dass sie seit Menschengedenken mit Taifunen leben.“ Nur bei den Jüngsten sitzt der Schock tief. „Der Regenguss bringt die Erinnerung an den Taifun zurück“, sagt Biber. „Ein Kind erzählte mir heute, wie es sich in Todesangst unter das Waschbecken quetschte, während der Taifun tobte und der Vater noch immer nicht zu Hause war.“
Zusammen mit Gemeindevorständen und der lokalen Partnerorganisation PRRM (Philippine Rural Reconstruction Movement) hat die junge Nothelferin Familien ausgewählt, die Werkzeug erhalten sollen. „Die Entscheidung fiel uns nicht leicht“, sagt Elisabeth Biber. Im Hochland erkundigte sich eine Mutter vor den Resten ihrer Hütte, ob ihr Name auf der Liste stehe. Biber musste passen: „Wir können erst einmal nur die Familien versorgen, die gar keine Hütte mehr haben und kaum Einkommen – weil sie viele Kinder, keine Jobs und keine Verwandten im Ausland haben.“ Zu ihrer Überraschung lächelte die Frau; es sei gut, dass ihre Nachbarinnen zuerst an die Reihe kämen, wo diese doch gar nichts mehr hätten.
„Bei Verteilungen kommt es sonst schon mal zu Aggressionen, wenn die Hilfsgüter nicht für alle reichen“, sagt Birgit Zeitler. So viel Solidarität wie auf den Philippinen sei ihr selten begegnet. Mal nehme ein Taxifahrer die Nothelfer kostenlos mit, mal fahre ein Ehepaar extra einen Umweg zum Flughafen, um sie abzusetzen. „Das ganze Land hilft mit Gütern, Geld und Zuspruch“, schreibt die Partnerorganisation PRRM auf ihrer Website nicht ohne Stolz. „Die Filipinos haben wieder einmal bewiesen, dass sie als Brüder und Schwestern füreinander einstehen.“
Elisabeth Biber hofft zu Weihnachten wieder zu Hause zu sein. „Ich habe schon ein Rückflugticket, aber wer weiß!“ Sie lacht. „Ich habe in den letzten Wochen gelernt zu improvisieren. Ich weiß nie, wo ich abends schlafen werde, in welchem Ort und auf welcher Insel.“ Biber ist aufgedreht vor Müdigkeit; wie immer in den letzten Wochen ist sie seit sechs Uhr morgens unterwegs, wie immer wird sie erst nach Mitternacht ins Bett fallen.
„Dafür sehen wir jeden Tag, wie sehr sich unsere Arbeit lohnt“, sagt sie. „Die Filipinos sind so dankbar, dass ihr Unglück die Welt nicht kalt lässt.“ Und doch ahnen sie bereits, dass sich spätestens im Frühling die volle Wirkung des Taifuns zeigt: Wenn die Kokospalmen nicht tragen, die Ernte auf den versalzenen Felder nicht aufgeht – und die meisten Organisationen wieder abgezogen sind. „Jetzt brauchen wir einen langen Atem“, schreiben auch die lokalen Partner von PRRM. „Wir müssen die betroffenen Gemeinden ganz neu aufbauen – und zwar so, dass wir dem nächsten Sturm besser standhalten.“

Headerbild: CC Kennedy, Liam, MCSN/wikimedia.org