Freiheit zu verkaufen

Die Pioniere des 21. Jahrhunderts suchen ihr Glück nicht mehr im Wilden Westen oder auf der Route 66, sondern auf der Hohen See. „Seasteads“ heißen die schwimmenden Kolonien, auf denen der Amerikanische Traum noch möglich scheint.

veröffentlicht im ARTE-Magazin, April 2011 >>

Ein letzter Blick zurück aufs Land, mit seinen Städten und Straßen, Verboten und Vorschriften. Vor ihnen liegt die Freiheit, das neue Grenzland – das Meer! Die Sonne brennt, die Gischt spritzt und am Horizont treibt eine bizarre Struktur: Clubstead, ihr neues Zuhause, der Vorposten einer neuen Zivilisation. Sie werden die Wahl haben, nicht zwischen Politikern, sondern zwischen Tausenden Plattformen. Ihre Pässe liegen schon auf dem Meeresgrund; sie sind keine Bürger mehr, sondern Kunden. The future is wide open.
Dieser Traum führte sie im Oktober 2008 in einem Konferenzraum zusammen: 50 Dotcom-Pioniere aus dem Silicon-Valley, die ihr Geld bislang mit virtuellen Revolutionen verdienen. Doch warum mit dem Cyberspace begnügen, wenn es auch größer geht? „In diesem Raum ist eine Menge guter Verrücktheit versammelt“, rief der ehemalige Google-Ingenieur Patri Friedman ihnen zu. „Für eine neue Zivilisation ist das noch nicht genug. Aber es ist ein Anfang.“
Die kalifornischen Thirtysomethings wollen ausbrechen, doch sie wissen nicht wohin. Der Wilde Westen gehört 150 Jahre nach den Siedlertrecks längst den Geflügelfarmern und die Route 66 den Seniorenreisegruppen. „Die USA waren mal ein Vorbild, aber das ist lange her und die aktuelle Regierung will sich offenbar noch weiter davon entfernen“, schrieb Friedman drei Monate nach Obamas Wahl zum Präsidenten, dessen Gesundheitsreform libertären Denkern ein Dorn im Auge ist. Und so wandert der Amerikanische Traum auf den Pazifik aus; 200 Seemeilen vor den Küsten beginnt nach UN-Recht jene Freihandelszone, von der sich die Seasteader so viel versprechen: Freiheit von staatlicher Kontrolle, Steuern und überkommenen Gesellschaftsmodellen.
Doch die Freiheit der ersten Jahre ist nur so groß wie ein Fußballfeld: Bis 2015 sollen die ersten 200 Siedler eine 120 x 120 Meter große Plattform in der San Francisco Bay beziehen und ihre eigenen Gesetze aufstellen. Wirtschaftlich sollen Seasteads vor allem Standortvorteile nutzen: von Aquafarming über Casinos bis Organhandel ist alles denkbar.
Die Idee ist so alt wie die Menschheit: In Südostasien leben bis heute staatenlose Seenomaden, die nur gelegentlich an Land kommen. Jüngere Versuche libertärer Exzentriker überlebten dagegen oft kaum die Jungfernfahrt und böten genug Stoff für mehrere James-Bond-Filme: Legendär, wie das Hotelschiff „Operation Atlantis“ mit den Kanonenbooten des haitianischen Diktators „Papa Doc“ Duvalier aneinander geriet und in einem Hurrikan sank. Oder wie ein Immobilienmogul aus Las Vegas 1971 die „Republik Minerva“ auf Korallenriffen errichtete – und dem König von Tonga weichen musste. Sagenhaft auch die Geschichte des paranoiden Piratenfunkers, der als „Fürst von Sealand“ jahrelang auf einer verlassenen Radarplattform vor der britischen Küste ausharrte – bis er es nicht mehr aushielt und aufs spanische Festland zog.
Doch das „Seasteading Institute“, das Friedman 2008 gründete, ist kein Wolkenkuckucksheim; der ehemalige Programmierer baut nicht auf Nullen und Einsen, sondern auf Stahl und Beton. Mit Juristen, Ingenieuren und Ökonomen arbeitet er an konkreten Problemlösungen. Gerade hat er sein Angestelltenteam von fünf auf zehn verdoppelt, da sucht er schon Ghostwriter für ein Seasteading-Buch, das noch in diesem Jahr in den USA erscheinen soll. Diesen Boom verdankt das Institut vor allem Peter Thiel, dem deutschstämmige Gründer des Bezahldienstes Paypal, der eine halbe Million US-Dollar spendete. Nicht ganz uneigennützig: Eine schwimmende Steueroase käme dem Milliardär sehr gelegen.
Wer die Seasteading-Bewegung verstehen will, muss erst einmal Patri Friedman verstehen – für einige einfach ein Spinner, für andere der „sexiest geek alive“: Der 34-Jährige strahlt noch im knallengen Leopardenshirt einen Rest von Würde aus. Er lebt in einer polyamourösen Ehe, fährt eine „FRRREAK“-Plakette durch San Francisco und archiviert seine zehn Jahre alte Homepage zu „historischen Zwecken“. Um so überraschender seine Zurückhaltung am Telefon. „Fünf Minuten“, schärft seine Assistentin ein, Friedman gibt sich einsilbig. Kritische Fragen tut er mit einer rhetorischen Handbewegung ab: Er werde ja nicht der Boss aller Seasteads. Und ohnehin habe alles noch viel Zeit.
Der Friedman-Enkel steckt in einem rhetorischen Dilemma: Einerseits muss er konkrete Pläne präsentieren, um Investoren anzulocken, andererseits vage bleiben, um Kritik zu vermeiden. Und so erzählt er Journalisten von Öko-Gemeinschaften auf hoher See und seinem Sohn Tovar, der sich auf die Unterwassertiere freue. Doch im Institut klingt er ganz anders: Die Demokratie ist für ihn eine „romantische Idee“, eine Diktatur womöglich die bessere Alternative – „vorausgesetzt, man ist frei zu gehen“. Für Inselromantik ist in seinem anarcho-kapitalistischen Denken kein Platz: Die Pioniere sind „Kunden“, jeder Staat ein „Unternehmen“, die schöne neue Welt bloß ein „Start-Up“.
Das Träumen überlässt er anderen: „Ich möchte segeln, nicht bloß treiben“, sagt Marko Järvela und lauscht in die Stille zwischen seinen Worten. Der Architekt aus dem estnischen Talinn hat in monatelanger Arbeit ein Modell für eine Seastead ausgeklügelt, die wie ein geflügelter Drachen vor dramatischem Licht schwebt. Beim Architektur-Wettbewerb des Seasteading-Instituts gewann die Idee des 47-Jährigen den Preis für die beste Ästhetik: 250 US-Dollar. Doch der Auftrag für die Entwicklung war da schon vergeben; Friedman brauchte vor allem wirksame Bilder.
Dass sich der Seasteading-Chef mit einer „persönlichen Assistentin“ umgibt, verwundert kaum – wohl aber, dass sie sich am Telefon als erklärte Feministin vorstellt. Wie kommt ausgerechnet sie an einen Chef, der auf seinem Blog über die Vorzüge der traditionellen Arbeitsteilung zwischen (männlichen) Pionieren und (weiblichen) Nesthüterinnen philosophiert? Brit Benjamin winkt ab. „Das Institut öffnet sich gerade zu allen Seiten“, glaubt die 21-Jährige, die das „Patriarchat des Systems“ abschaffen will – und dafür ein paar patriarchalische Nerds in Kauf nimmt. Streit? Diskussionen? „So etwas gibt es unter den Seasteadern nicht, weil wir frei von Ideologien sind.“
Dabei schwebt über der gesamten Bewegung die Ideologie des Libertarismus, die Friedman quasi geerbt hat: Sein Großvater, Nobelpreisträger Milton Friedman, wollte fast alle staatlichen Aufgaben privatisieren lassen; sein Vater David fantasierte schon über die Abschaffung des Staates zugunsten eines totalen Kapitalismus. „Die beiden schrieben“, sagt der Enkel nur, „aber es ist ziemlich naiv zu glauben, dass man damit etwas erreichen kann. Ich will lieber etwas tun.“
Doch dann schrieb auch Friedman junior junior erst einmal ein Buch: Sein „Practical Guide To Homesteading The High Seas“ liegt irgendwo zwischen Henry D. Thoreaus Blockhüttenroman „Walden“, oberflächlicher Kulturgeschichte und akribischem Businessplan. Auf alles gibt er eine pragmatische Antwort: Seepocken abwehren? „Mit schwach chloriertem Wasser besprühen.“ Fremde Flotten abwehren? „Schiffsabwehrraketen wie die C-201 sind recht billig und ziemlich effektiv.” Sätze wie Warnschüsse.
Dem Buch zufolge sollte schon in diesem Jahr der erste Mensch aufs Meer hinaus ziehen, 2034 eine Großstadt und in hundert Jahren „mindestens“ eine halbe Milliarde Menschen. „Google hat meine Maßstäbe dafür geprägt, wie schnell etwas wachsen sollte“, erklärt Friedman. „Wenn wir eine Seastead bauen, ist auch Platz für Tausend.“ Nach den wohlhabenden Pionieren, die 2000 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche bezahlen können, will Friedman auch Flüchtlinge ansprechen, die legal auf den Seasteads leben und in Fabriken arbeiten könnten.
Ozeankolonien als Lösung der Krisen des 21. Jahrhunderts – die Idee klingt verlockend, zumal laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) bis zur Jahrhundertmitte 200 Millionen Menschen allein durch den Klimawandel heimatlos werden. Doch die Menschheit lässt sich nicht verpacken und einschrumpfen wie Google-Server. Wovon sollten die Migranten ihre Reise bezahlen? Und wer verhindert, dass sie auf den Plattformen versklavt werden? Jürgen Knirsch von Greenpeace ist alarmiert: „Ich halte das politische Gedankengut dieser Bewegung für überaus gefährlich. Für die Krisen unserer Zeit brauchen wir dringend weltweite Übereinkünfte, aber diese modernen Piraten wollen sich nur selbst die Rosinen herauspicken. Ihre technologische Gigantomanie würde den Klimawandel und die Ernährungskrise nur verschlimmern.“
Doch vielleicht wird es dazu gar nicht kommen: Die meisten Seasteader sind Großstädter, die nie die Enge eines kleinen Dorfes erlebt haben. Selbst Patri Friedman will erst aufs Meer ziehen, wenn die Seesiedlungen groß genug sind – vorher würde seine Frau sich langweilen. Ein Kajak-Ausflug des Instituts fiel wegen “heftigen Windes” ins Wasser, ein Hausboot-Festival wegen hoher Risiken – die Versicherung wollte nicht bürgen. Möglicherweise wird ihr Traum an einfachen Naturgesetzen zerschellen.